Paul Celan, eigentl.: P. Antschel, auch: Anczel, * 23. 11. 1920 Czernowitz, † vermutlich
Ende (20.) April 1970 Paris (Freitod). – Lyriker u. Übersetzer.
Celan wuchs als einziges Kind deutschsprachiger Juden in der damals kulturell
sehr bedeutenden, kaiserlich-österreichisch geprägten Vielvölkerstadt
Czernowitz (heute: Tschernowtzy) auf, die nach dem Zerfall des Habsburger
Reiches 1918 mit der gesamten Bukowina Rumänien zufiel. Sein Vater, der
Bautechniker Leo Antschel-Teitler, verdiente den Unterhalt der Familie als
Brennholzmakler. Maßgebend geweckt und stimuliert wurde Celans Interesse
für die deutsche Sprache und Literatur von seiner Mutter Friederike Schrager.
Die Hälfte der 110000 Einwohner der Stadt waren deutschsprachige Juden;
Rumänen und Ukrainer teilten sich in die andere Hälfte. Die sprachliche
und kulturelle Vielfalt der Bukowina, die jüdische Kulturtradition und
nicht zuletzt die reiche literarische Tradition dieses Gebiets haben tiefgreifender
und nachhaltiger Celans dichterische Entwicklung bestimmt, als es die umfangreiche
Celan-Forschung bis vor kurzem berücksichtigen wollte.
Nach Besuch des Oberrealgymnasiums von Czernowitz, das Celan 1934 wegen
des sich auch hier verschärfenden Antisemitismus verlassen muss, absolviert
er 1938 das dortige rumänische Staatsgymnasium. Seine literarischen Interessen
stehen im Zeichen von Hölderlin, Rilke, Trakl, Jean Paul, der französischen
Symbolisten und der modernen rumänischen Lyrik; sozial und politisch
macht sich Celan die anarcho-kommunistischen Ideale von Peter Kropotkin und
Gustav Landauer zu eigen. 1938 beginnt er das Studium der Medizin in Tours/Frankreich,
da es für dieses Fach an rumänischen Universitäten für
Juden einen Numerus clausus gab. Nach den Sommerferien 1939 verhindert der
Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Fortsetzung des Studiums in Frankreich,
und Celan nimmt noch im selben Jahr ein Studium der Romanistik an der Universität
von Czernowitz auf.
Am 20. 6. 1940 werden Bessarabien und die Nordbukowina
mit Czernowitz von der Sowjetunion annektiert. Es entwickelt sich Celans Freundschaft
mit der Schauspielerin Ruth Lachner; die ersten bedeutenden Gedichte entstehen
(Schlaflied, Prinzessin Nimmermüd, Sternenlied). Nach Hitlers Überfall
auf die Sowjetunion ziehen am 5. 7. 1941 rumänische und deutsche Truppen
in die Stadt ein. Celan muß als Jude Zwangsarbeit unter rumänischer
Aufsicht verrichten, seine Eltern werden von den Deutschen in ein Arbeitslager
am südlichen Bug verschleppt. 1942 stirbt der Vater an Typhus, die Mutter
wird ermordet. Im Februar 1944 wird Celan aus dem Arbeitslager entlassen und
kehrt nach Czernowitz zurück, das im März wieder sowjetisch wird.
Er hat Umgang mit Rose Ausländer und den Dichtern Alfred Kittner und
Immanuel Weißglas. In dieser Zeit entsteht das Typoskript 1944 (Gedichte
1938-44. Ffm. 1986), eine Sammlung von 93 Gedichten, darunter die berühmte
Todesfuge. Er nimmt das Studium, diesmal der Anglistik, wieder auf. 1945 nimmt
er in Bukarest eine Tätigkeit als Verlagslektor und Übersetzer auf;
er gehört zum Kreis der Surrealisten um Gerasim Luca und ist mit den
Dichtern Alfred Margul-Sperber und Peter Solomon befreundet. Erste Veröffentlichungen
erscheinen in der literarischen Zeitschrift »Agora«. Während
des Krieges und in den Bukarester Jahren entstehen auch mehrere Gedichte in
rumänischer Sprache, acht surrealistische Texte und Kafka-Übersetzungen
– alle bisher nur zum Teil veröffentlicht.
Unter dem wachsenden Druck des
Stalinismus flieht Celan im Dez. 1947 über Ungarn nach Wien. Dort Freundschaft
mit Edgar Jené, Ingeborg Bachmann, Milo Dor u.a. 1948 erscheint in
Wien der erste Gedichtband Der Sand aus den Urnen und die poetologisch
wichtige Einleitung zu Edgar Jenés Lithographien Edgar Jené
oder der Traum vom Traume. Schon im Juli 1948 verläßt Celan Österreich,
um sich endgültig in Paris niederzulassen. Im selben Jahr beginnt er
das Studium der Germanistik und Sprachwissenschaft. 1952 Heirat mit der Künstlerin
Gisèle Lestrange. Von 1959 bis zu seinem Freitod 1970 in der Seine
ist Celan Lektor für Deutsche Sprache und Literatur an der École
Normale Supérieure.
1958 erhielt er den Literaturpreis der Freien
Hansestadt Bremen, 1960 den Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie
für Sprache und Dichtung in Darmstadt, 1964 den Großen Kunstpreis
des Landes Nordrhein-Westfalen.
(Dieser Text basiert auf dem entsprechenden Eintrag in 'Wilpert: Lexikon der Weltliteratur' und wurde von mir modiziert)
Werke
-Der Sand aus den Urnen. Wien 1948, A. Sexl.
-Mohn und Gedächtnis. Stuttgart 1952, Deutsche Verlags-Anstalt.
-Von Schwelle zu Schwelle. Stuttgart 1955, Deutsche Verlags-Anstalt.
-Sprachgitter. Frankfurt 1959, S. Fischer.
-Die Niemandsrose. Frankfurt 1963, S. Fischer.
-Atemwende. Frankfurt 1967, Suhrkamp.
-Fadensonnen. Frankfurt 1968, Suhrkamp.
-Lichtzwang. Frankfurt 1970, Suhrkamp.
-Schneepart. Frankfurt 1971, Suhrkamp.
-Zeitgehöft. Späte Gedichte aus dem Nachlass. Frankfurt 1976, Suhrkamp.
-Gesammelte Werke in 7 Bänden. Frankfurt 2000, Suhrkamp Tb.
-Ingeborg Bachmann, Paul Celan – Herzzeit. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Herausgegeben und kommentiert von Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann. Frankfurt 2008, Suhrkamp.
Sekundärliteratur:
-André, Robert: Gespräche von Text zu Text. Celan – Heidegger – Hölderlin. Hamburg 2001.
-Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg): Text + Kritik 53/54. Paul Celan.
-Baumann, Gerhart: Erinnerungen an Paul Celan. suhrkamp taschenbuch 1985, Frankfurt 1992.
-Buhr, Gerhard: Celans Poetik. Göttingen/Zürich 1976, Vandenhoeck & Ruprecht.
-Chalfen, Israel: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1979
-France-Lanord, Hadrien: Paul Celan und Martin Heidegger. Vom Sinn eines Gesprächs.Rombach Verlag, Freiburg 2007.
-Gadamer, Hans-Georg: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall. Bibliothek Suhrkamp 352, Frankfurt 1973
-Hamacher, Werner / Menninghaus, Winfried (Hrsg): Paul Celan. suhrkamp taschenbuch materialien, Frankfurt 1988.
-Hurna, Myron: Modernität in der Lyrik Paul Celans. Der poetologische Status seiner Gedichte. Sonnenberg 2006.
-Lemke, Anja: Konstellation ohne Sterne. Zur poetischen und geschichtlichen Zäsur bei Martin Heidegger und Paul Celan. München 2002.
-Lyon, James K.: An unresolved conversation 1951-1970, Baltimore 2006.
-May, Markus / Goßens, Peter / Lehmann, Jürgen (Hg.): Celan Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2008, Metzler.
-Meinecke, Dietlind (Hrsg): Über Paul Celan. Suhrkamp Verlag (edition suhrkamp 495), Frankfurt 1970.
-Menninghaus, Winfried: Paul Celan. Magie der Form. Frankfurt 1980, Suhrkamp Verlag.
-Neumann, Peter Horst: Zur Lyrik Paul Celans. Göttingen/Zürich 1968, Vandenhoeck & Ruprecht.
-Szondi, Peter: Celan-Studien. in: Schriften II. Frankfurt 1978, Suhrkamp Verlag.
-Wiedemann, Barbara (Hrsg): Paul Celan / Nelly Sachs: Briefwechsel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1993.
|