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Peter Arschinow Die Ukraine als Staatsgebilde existiert erst seit 1917 mit der Gründung der Ukrainischen Volksrepublik. Die nächsten Jahre waren gezeichnet von militärischen Auseinandersetzungen der unterschiedlichsten Art. Deutsch-österreichische Truppen besetzten Teile der Ukraine, eine provisorische Regierung versuchte Aufstände der Kleinbauern zu zerschlagen, weißrussische (konterrevolutionäre) Verbände kämpften gegen die Rote Armee, die Fronten wogten hin und her. Mittendrin eine nach Freischärlerart kämpfende Truppe um den Anarchisten Nestor Machno, der sich im Lauf der Jahre bis 1921 weitere Verbände armer Kleinbauern und Arbeiter anschlossen. Zu den Hochzeiten dieser Bewegung kämpften mehr als 50.000 Menschen für die Selbstorganisation der Bevölkerung in lokalen Sowjets, die sich überregional in einer Art Rätesystem koordinieren sollten. Der größte Teil der Ukraine stand unter ihrem Einfluss. Nestor Machno wurde am 26. November 1888 in Hulyaipole geboren, das damals noch zum Russischen Reich gehörte, heute aber auf ukrainischem Gebiet liegt. Er wuchs in einer armen bäuerlichen Familie auf und radikalisierte sich früh durch die Begegnung mit anarchistischen Ideen und den Schriften von Michail Bakunin und Pjotr Kropotkin. Er beteiligte sich an revolutionären Aktivitäten und Attentaten auf zaristische Beamte, später an der Russischen Revolution von 1905. Es erfolgte die Verhaftung und Verurteilung zu lebenslanger Haft. Nach der Februarrevolution 1917 kam er frei und kehrte in die Ukraine zurück, wo er sich aufständischen Gruppen armer Kleinbauern anschloss und durch sein militärisches Talent und wagemutiges Verhalten bald zu einer zentralen Gestalt dieser Bewegung wurde, die nach seinem Namen als Machnowschtschina in die Geschichtsschreibung einging. Es handelte sich dabei um eine soziale Bewegung, die – im Gegensatz zu den Bolschewiken – an einer Machtergreifung kein Interesse hatte. Sobald ein Ort oder eine Region befreit worden war, begann man mit der Selbstorganisation der Kleinbauern und Arbeiter und verstand sich als Schutzmacht gegenüber allen Bestrebungen, den Menschen diese Freiheit zu nehmen. Im Kampf gegen die deutsch-österreichischen Besatzungsarmeen, die Truppen der bürgerlichen provisorischen Regierung der Ukraine und die zaristischen Einheiten kam es mehrmals zu Vereinbarungen mit der Roten Armee, teilweise gab es auch eine einheitliche Befehlsstruktur. Doch am Ende war es den bolschewistischen Führern – unter ihnen auch Leo Trotzki – wichtiger, einen revolutionären Konkurrenten zu schwächen, indem – wie es sich später im Spanischen Bürgerkrieg wiederholen sollte – verleumderische Propaganda gegen die Anarchisten gestreut wurde und sie bei der Zuteilung der überlebenswichtigen Waffen benachteiligt wurden. Schon bald begann dann auch in der Sowjetunion die Zerschlagung anarchistischer und sozialrevolutionärer Organisationen, das mit der Revolution eingeführte System der freien Sowjets wurde durch den Zentralismus der Kommunistischen Partei ad absurdum geführt. Machno musste 1921, mehrfach und schwer verwundet, das Land verlassen und lebte fortan im französischen Exil, wo er als einfacher Arbeiter seinen Unterhalt verdiente. Er starb 1934 an Tuberkulose. Die Machnowschtschina wurde 1922 von Verbänden der Roten Armee besiegt, die Ukraine wieder ein Teil der Sowjetunion. Peter Arschinow, der Autor dieses Buches, lernte Machno 1910 als Mithäftling kennen. Er gilt als der Chronist der Machno-Bewegung, seine Haltung ist parteiisch, auch wenn er sich um eine sachliche und objektive Darstellung bemüht. Er greift auch kritische Fragen auf, etwa die behauptete Beteiligung einiger Mitglieder der Machnowschtschina an Judenpogromen, die er aber als Teil der bolschewistischen Verleumdung zurück weist. Seine Kritik konzentriert sich vor allem auf Machno selbst, dem er Fehler bei der militärischen Taktik und eine zu spontane Entschlussfreudigkeit vorwirft. Er betont allerdings auch, dass es ohne die Fähigkeit Machnos Massen zu motivieren und zu organisieren, nie zu den zeitweiligen großen Erfolgen der Machnowschtschina hätte kommen können. Arschinows Kritik gilt auch den namhaften russischen Anarchisten, die in der Machnowschtschina eine Truppe aus Abenteurern gesehen haben, deren theoretisches Niveau kaum den Anspruch, ein Teil der anarchistischen Bewegung zu sein, genügen würde. Das Manuskript des Buches wurde im Juni 1921 abgeschlossen, es erschien 1923 in russischer Sprache in Berlin und liegt hier in der 1924 in deutscher Übersetzung veröffentlichten Ausgabe unverändert vor. Volin (1882–1945), der das Vorwort zu dem Buch verfasst hat, schloss sich 1905 den Sozialrevolutionären an, konnte aus der Verbannung in Sibirien nach Paris fliehen, wo er sich dem Anarchismus zuwandte. Nach einem Aufenthalt in den USA kehrte er 1917 nach Russland zurück. Zeitweise kämpfte er in der Ukraine in den Reihen der Machnowschtschina, wurde von der Roten Armee festgenommen und sollte hingerichtet werden. Nach mehreren Rückschlägen der Roten Armee und einem erneuten Abkommen mit der Machnowschtschina, wurde er frei gelassen und ausgewiesen. Sein Hauptwerk ist die drei Bände umfassende "Die unbekannte Revolution", in der die Oktoberrevolution und die Folgejahre aus anarchistischer Sicht beschrieben und eingeschätzt werden. Felix Philipp Ingold (*1942), Schweizer Schriftsteller und emeritierter außerordentlicher Professor für Kultur- und Sozialgeschichte Russlands erläutert in seinem Nachwort das Verhältnis Nestor Machnos zum Anarchismus seiner Zeit und seine Hellsichtigkeit über die Entwicklung in der Sowjetunion. Ihm war früh klar, dass die Macht der Bolschewiken eine Gefahr für die Erfüllung der Ziele der Revolution darstellen würde, dass mit der Konsolidierung ihrer Macht nur eine Herrschaftsform durch eine andere ersetzt werden würde, die Freiheit der sich selbst organisierenden Bauern und Arbeiter damit ein Ende nehmen würde. Auch die Bolschewiken hatten früh erkannt, dass der Einfluss des Anarchismus auf den Verlauf der Revolution ihre Machtansprüche gefährden würde und erzeugten mit Verleumdungen und Intrigen eine Atmosphäre, die es ihnen wenig später möglich machte, brachial gegen anarchistische Organisationen und ihre Mitglieder vorzugehen. So musste der Kampf der Machnowschtschina für eine freie und unabhängige Ukraine scheitern. Ingold nennt die Ereignisse "eine der wichtigsten und erfolglosesten anarchistischen Bewegungen dieses Jahrhunderts". (S. 352) Das Buch hatte ich von einem Londoner Antiquariat bezogen. Als ich es öffnete fiel mir eine Karte der Ukraine entgegen, die die damaligen Frontverläufe der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Invasorentruppen bzw. den konterrevolutionären "weißen" Truppen anzeigten, und später dann die zwischen den anarchistischen Verbänden und der Roten Armee. In die Karte eingelegt war ein gefaltetes DIN A4 großes Blatt, das zuerst den Eindruck eines handschriftlichen Briefes auf mich machte. Die Sprache war englisch, das konnte ich erkennen, auch der Name Machno tauchte auf, aber ansonsten blieben die meisten Teile für mich unleserlich. Schade, aber okay. Als ich mich dem Ende des Buches näherte, lag eine kleine Postkarte zwischen den Seiten, die an Professor James Joll an der London School of Economics und Political Science in London gerichtet war. Von ihm hatte ich im August des vergangenen Jahres "Die Anarchisten" gelesen: Der Absender der Postkarte war der Herausgeber der "European Studies Review" aus Lancaster, der Joll um eine Besprechung des genannten Buches bat, das er ihm mit gleicher Post zuschickte. Und auf einmal war der unleserliche Brief zum Entwurf einer Besprechung des gerade von mir gelesenen Buches geworden, die mir handschriftlich von einem der Experten zu diesem Thema vorlag und deren Abdruck in der Zeitschrift "European History Quarterly" (Volume 6, Issue 2, p. 271f) ich hier am Ende der Seite wiedergebe. Toll! 31. Mai 2024 |
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