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Peter Arschinow Anarchisten im Freiheitskampf Peter Arschinow
Anarchisten im Frei­heits­kampf.
Geschichte der Mach­no-Be­we­gung (1918–1921)
Mit einem Vorwort von Volin. Aus dem Rus­si­schen übersetzt von Walter Hold. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Felix Philipp Ingold.
Flamberg Verlag 1971, 356 Sei­ten, 1 Karte.

Die Ukraine als Staatsgebilde exis­tiert erst seit 1917 mit der Grün­dung der Ukrainischen Volks­re­pu­blik. Die nächsten Jah­re wa­ren ge­zeich­net von mi­li­tä­ri­schen Aus­ei­nan­derset­zun­gen der un­ter­schied­lichs­ten Art. Deutsch-ös­ter­rei­chi­sche Trup­pen be­setz­ten Teile der Ukraine, eine pro­vi­so­ri­sche Regierung ver­such­te Auf­stän­de der Klein­bau­ern zu zer­schla­gen, weiß­rus­si­sche (kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re) Ver­bän­de kämpf­ten gegen die Rote Ar­mee, die Fronten wogten hin und her. Mit­ten­drin ei­ne nach Frei­schär­ler­art kämpfende Truppe um den Anar­chis­ten Nestor Machno, der sich im Lauf der Jahre bis 1921 wei­te­re Verbände armer Klein­bau­ern und Arbeiter anschlossen. Zu den Hoch­zei­ten dieser Be­we­gung kämpften mehr als 50.000 Men­schen für die Selbst­or­ga­ni­sa­tion der Be­völ­ke­rung in lokalen Sow­jets, die sich überregional in ei­ner Art Rätesystem ko­or­di­nie­ren sollten. Der größ­te Teil der Ukra­i­ne stand unter ihrem Ein­fluss.

Nestor MachnoNestor Mach­no wur­de am 26. No­vem­ber 1888 in Hul­yai­po­le ge­bo­ren, das damals noch zum Rus­si­schen Reich ge­hör­te, heu­te aber auf uk­rai­ni­schem Ge­biet liegt. Er wuchs in einer ar­men bäuerlichen Fa­mi­lie auf und ra­di­ka­li­sier­te sich früh durch die Be­geg­nung mit anar­chis­ti­schen Ideen und den Schriften von Mi­cha­il Bakunin und Pjotr Kro­pot­kin. Er beteiligte sich an re­vo­lu­tio­nä­ren Aktivitäten und Attentaten auf zaristische Beamte, später an der Russischen Re­vo­lu­tion von 1905. Es erfolgte die Verhaftung und Ver­ur­tei­lung zu lebenslanger Haft. Nach der Fe­b­ruar­re­vo­lu­tion 1917 kam er frei und kehrte in die Ukra­i­ne zurück, wo er sich auf­stän­di­schen Grup­pen armer Klein­bau­ern anschloss und durch sein militärisches Talent und wa­ge­mu­ti­ges Ver­hal­ten bald zu ei­ner zentralen Gestalt dieser Be­we­gung wurde, die nach seinem Na­men als Mach­nowscht­schi­na in die Ge­schichts­schrei­bung ein­ging.

Es handelte sich dabei um eine so­zia­le Bewegung, die – im Ge­gen­satz zu den Bolschewiken – an ei­ner Machtergreifung kein In­te­res­se hatte. Sobald ein Ort oder eine Region befreit worden war, be­gann man mit der Selbst­or­ga­ni­sa­tion der Klein­bau­ern und Ar­bei­ter und verstand sich als Schutz­macht gegenüber allen Be­stre­bun­gen, den Men­schen die­se Frei­heit zu nehmen. Im Kampf ge­gen die deutsch-ös­ter­rei­chi­schen Be­sat­zungs­ar­meen, die Truppen der bürgerlichen pro­vi­so­ri­schen Re­gie­rung der Ukra­i­ne und die zaristischen Einheiten kam es mehrmals zu Ver­ein­ba­run­gen mit der Ro­ten Armee, teil­wei­se gab es auch eine ein­heit­li­che Be­fehls­struk­tur. Doch am En­de war es den bol­sche­wis­ti­schen Füh­rern – unter ihnen auch Leo Trotz­ki – wichtiger, einen re­vo­lu­tio­nä­ren Kon­kur­ren­ten zu schwä­chen, in­dem – wie es sich später im Spanischen Bürgerkrieg wie­der­ho­len sollte – ver­leum­de­ri­sche Pro­pa­gan­da gegen die Anar­chis­ten gestreut wurde und sie bei der Zuteilung der über­le­bens­wich­ti­gen Waffen benachteiligt wur­den. Schon bald begann dann auch in der Sowjetunion die Zer­schla­gung anarchistischer und so­zial­re­vo­lu­tio­nä­rer Or­ga­ni­sa­tio­nen, das mit der Revolution ein­ge­führ­te System der freien Sow­jets wurde durch den Zen­tra­lis­mus der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei ad absurdum geführt.

Machno musste 1921, mehrfach und schwer ver­wun­det, das Land ver­las­sen und lebte fortan im fran­zö­si­schen Exil, wo er als ein­fa­cher Arbeiter sei­nen Unterhalt ver­dien­te. Er starb 1934 an Tu­ber­ku­lo­se.

Die Machnowschtschina wurde 1922 von Ver­bän­den der Roten Ar­mee besiegt, die Ukraine wie­der ein Teil der Sow­jet­union.

Peter Arschinow, der Autor dieses Bu­ches, lernte Mach­no 1910 als Mit­häft­ling kennen. Er gilt als der Chro­nist der Machno-Bewegung, sei­ne Haltung ist par­tei­isch, auch wenn er sich um eine sachliche und objektive Darstellung be­müht. Er greift auch kri­ti­sche Fra­gen auf, etwa die behauptete Be­tei­li­gung einiger Mitglieder der Mach­nowscht­schina an Ju­den­po­gro­men, die er aber als Teil der bol­sche­wis­ti­schen Ver­leum­dung zu­rück weist. Seine Kritik kon­zen­triert sich vor allem auf Machno selbst, dem er Fehler bei der mi­li­tä­ri­schen Taktik und eine zu spon­ta­ne Ent­schluss­freu­dig­keit vor­wirft. Er betont al­ler­dings auch, dass es ohne die Fähigkeit Mach­nos Massen zu motivieren und zu organisieren, nie zu den zeit­wei­li­gen großen Erfolgen der Mach­nowscht­schi­na hätte kom­men können. Arschinows Kri­tik gilt auch den namhaften rus­si­schen Anar­chis­ten, die in der Mach­nowsch­tschi­na eine Trup­pe aus Abenteurern gesehen haben, de­ren theo­re­ti­sches Niveau kaum den Anspruch, ein Teil der anar­chis­ti­schen Bewegung zu sein, ge­nü­gen wür­de. Das Manuskript des Buches wurde im Juni 1921 ab­ge­schlos­sen, es erschien 1923 in rus­si­scher Sprache in Berlin und liegt hier in der 1924 in deut­scher Übersetzung ver­öf­fentl­ich­ten Ausgabe un­ver­än­dert vor.

Volin (1882–1945), der das Vor­wort zu dem Buch ver­fasst hat, schloss sich 1905 den So­zial­re­vo­lu­tio­nä­ren an, konnte aus der Ver­ban­nung in Sibirien nach Pa­ris fliehen, wo er sich dem Anar­chis­mus zu­wand­te. Nach einem Au­fent­halt in den USA kehr­te er 1917 nach Russland zurück. Zeit­wei­se kämpf­te er in der Ukraine in den Reihen der Mach­nowscht­schi­na, wurde von der Roten Ar­mee fest­ge­nom­men und sollte hin­ge­rich­tet werden. Nach meh­re­ren Rückschlägen der Roten Ar­mee und ei­nem erneuten Ab­kom­men mit der Mach­nowscht­schi­na, wurde er frei gelassen und aus­ge­wie­sen. Sein Haupt­werk ist die drei Bände um­fas­sen­de "Die un­be­kann­te Re­vo­lu­tion", in der die Ok­to­ber­re­vo­lu­tion und die Fol­ge­jah­re aus anar­chis­ti­scher Sicht be­schrie­ben und ein­ge­schätzt wer­den.

Felix Philipp Ingold (*1942), Schwei­zer Schrift­stel­ler und eme­ri­tier­ter außerordentlicher Pro­fes­sor für Kul­tur- und So­zial­ge­schich­te Russlands erläutert in sei­nem Nachwort das Ver­hält­nis Nes­tor Mach­nos zum Anar­chis­mus seiner Zeit und seine Hell­sich­tig­keit über die Entwicklung in der Sow­jet­union. Ihm war früh klar, dass die Macht der Bol­sche­wi­ken eine Gefahr für die Er­fül­lung der Ziele der Revolution dar­stel­len würde, dass mit der Kon­so­li­die­rung ihrer Macht nur eine Herr­schafts­form durch eine an­de­re ersetzt werden würde, die Frei­heit der sich selbst or­ga­ni­sie­ren­den Bauern und Ar­bei­ter damit ein Ende nehmen würde. Auch die Bol­sche­wi­ken hatten früh er­kannt, dass der Ein­fluss des Anar­chis­mus auf den Verlauf der Re­vo­lu­tion ihre Machtansprüche ge­fähr­den würde und er­zeug­ten mit Verleumdungen und Intrigen ei­ne At­mo­sphä­re, die es ihnen we­nig später möglich mach­te, bra­chial gegen anarchistische Or­ga­ni­sa­tio­nen und ihre Mitglieder vor­zu­ge­hen. So musste der Kampf der Machnowschtschina für eine freie und unabhängige Ukra­i­ne scheitern. Ingold nennt die Er­eig­nis­se "eine der wich­tigs­ten und er­folg­lo­ses­ten anar­chis­ti­schen Bewegungen dieses Jahr­hun­derts". (S. 352)


Das Buch hatte ich von einem Lon­do­ner An­ti­qua­riat bezogen. Als ich es öffnete fiel mir eine Kar­te der Ukraine entgegen, die die damaligen Front­ver­läu­fe der krie­ge­ri­schen Aus­ei­nan­der­set­zun­gen mit den Invasorentruppen bzw. den kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­ren "wei­ßen" Truppen anzeigten, und spä­ter dann die zwischen den anar­chis­ti­schen Verbänden und der Roten Armee. In die Karte ein­ge­legt war ein ge­fal­te­tes DIN A4 großes Blatt, das zuerst den Ein­druck eines handschriftlichen Brie­fes auf mich mach­te. Die Spra­che war englisch, das konn­te ich er­ken­nen, auch der Name Mach­no tauchte auf, aber an­sons­ten blieben die meisten Teile für mich un­le­ser­lich. Schade, aber okay.

Als ich mich dem Ende des Bu­ches näherte, lag ei­ne kleine Post­kar­te zwischen den Seiten, die an Pro­fes­sor James Joll an der London School of Eco­no­mics und Political Science in London ge­rich­tet war. Von ihm hatte ich im August des ver­gan­ge­nen Jah­res "Die Anarchisten" gelesen:

Der Absender der Postkarte war der Herausgeber der "European Stu­dies Review" aus Lancaster, der Joll um eine Besprechung des genannten Buches bat, das er ihm mit gleicher Post zu­schick­te. Und auf einmal war der un­le­ser­li­che Brief zum Entwurf ei­ner Be­spre­chung des gerade von mir ge­le­se­nen Bu­ches geworden, die mir handschriftlich von ei­nem der Ex­per­ten zu diesem Thema vor­lag und deren Ab­druck in der Zeit­schrift "European History Quar­terly" (Volume 6, Issue 2, p. 271f) ich hier am Ende der Seite wie­der­ge­be. Toll!

Postkarte James Joll VorderseitePostkarte James Joll Rückseite

Manuskript James Joll VorderseiteManuskript James Joll Rückseite

Rezension James Joll


31. Mai 2024

Anarchismus

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