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Pat Barker Die Straße der Geister Pat Barker:
Die Straße der Geis­ter. Ro­man.
Deutsch von Mat­thi­as Fien­bork. Mit ei­nem Nach­wort von An­ge­la Scha­der.
Deutscher Taschenbuch Verlag 2002, 256 Sei­ten, ISBN 978-3-423-13005-9

Mit Die Stra­ße der Geis­ter, dem drit­ten und letz­ten Band ih­rer Re­ge­ne­ra­tion-Tri­lo­gie, führt Pat Bar­ker die Pro­ta­go­nis­ten aus den Vor­gän­ger­ro­ma­nen Nie­mands­land und Das Auge in der Tür zu­sam­men: den Mi­li­tär­psy­chia­ter Wil­liam Ri­vers und sei­nen Pa­tien­ten Bil­ly Prior. Nach der Be­hand­lung sei­nes Kriegs­trau­mas kehrt Leut­nant Billy Prior zum vier­ten Mal an die West­front in Frank­reich zu­rück. Er hat den Glau­ben an den Sinn des Krie­ges ver­lo­ren, doch ein va­ges Pflicht­ge­fühl treibt ihn an. Der Psy­chia­ter Dr. Ri­vers sieht sich mit ei­nem mo­ra­li­schen Di­lem­ma kon­fron­tiert: Er heilt trau­ma­ti­sier­te Sol­da­ten, um sie zu­rück an die Front zu schi­cken – ein Wi­der­spruch, der ihn selbst an den Rand des Zu­sam­men­bruchs treibt.

Barkers Erzählung wech­selt zwi­schen Ri­vers' Re­fle­xio­nen und den Front­er­fah­run­gen von Leut­nant Bil­ly Prior. Die Ge­gen­über­stel­lung von Ri­vers' eth­no­lo­gi­schen Er­in­ne­run­gen an Me­la­ne­sien – wo er in­di­ge­ne Ri­tu­a­le un­ter Kopf­jä­gern un­ter­such­te – und den Schre­cken der West­front deu­tet an, dass der mo­der­ne, in­dus­tri­a­li­sier­te Krieg sei­ne ei­ge­nen, grau­sa­men Ri­tu­a­le kennt.

Der Erste Welt­krieg dient Bar­ker als exem­pla­ri­sches Set­ting: Die anfängliche Eu­pho­rie des Jah­res 1914 weicht der Des­il­lu­sio­nie­rung und dem Hor­ror. Der Ro­man ver­bin­det Fik­tion mit his­to­ri­schen Er­eig­nis­sen und Per­so­nen (*) und the­ma­ti­siert die psy­cho­lo­gi­schen und an­thro­po­lo­gi­schen As­pek­te des Krie­ges. Bar­ker de­kon­stru­iert be­wusst die My­then des Hel­den­tums und ent­larvt den Krieg als sinn­lo­se Zer­stö­rungs­ma­schi­ne­rie.

Der Titel des Ro­mans, Die Stra­ße der Geis­ter, be­zieht sich auf ei­nen To­pos aus Ri­vers' Feld­for­schung in Me­la­ne­sien, wo die Geis­ter der To­ten eine Stra­ße in die ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung der Le­ben­den ge­hen. Die­se Vor­stel­lung wird zur zen­tra­len Me­ta­pher des Ro­mans und ver­bin­det die Trau­ma­ta der Kriegs­teil­neh­mer mit dem Um­gang an­de­rer Kul­tu­ren mit dem Tod.

Die Trilogie zeigt eine von Hass, Na­tio­na­lis­mus und Schuld zer­ris­se­ne Män­ner­ge­sell­schaft. Frau­en spie­len kaum eine Rol­le – Män­ner füh­ren den Krieg, er­lei­den ihn und re­pro­du­zie­ren sei­ne Ge­walt. Ihre Fi­gu­ren sind Tä­ter und Op­fer zu­gleich, ge­fan­gen in ei­nem Sys­tem, das ih­nen kei­nen Aus­weg bie­tet.

Pat Barker (*1943) be­kam für Die Stra­ße der Geis­ter 1995 den Boo­ker-Preis ver­lie­hen. Sel­ten hat mich ein Buch zu die­ser Pro­ble­ma­tik so un­be­rührt ge­las­sen wie die­ses. Was mög­li­cher­wei­se so­gar der Ab­sicht der Au­to­rin ent­spricht.


* Die war poets Sieg­fried Sas­soon und Wil­fred Owen, die in ih­ren Ge­dich­ten den grau­en­haf­ten Stel­lungs­krieg be­schrie­ben, so­wie der An­thro­po­lo­ge und Psy­chia­ter Dr. Wil­liam Ri­vers.

20. Oktober 2025

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