Kassiber | |||||
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Hermann Burger In der Nacht vom 13. auf den 14. Jänner 1988 verschwindet der Gast aus Zimmer No. 7 des Bahnhofhotels in Göschenen am Nordfuß des Sankt Gotthard. Das Personal findet auf dem Kopfkissen eine "Anleitung zum Selbstmord" und in einer Kommode ein Manuskript ohne Verfasserangabe mit dem Titel "Tractatus logico-suicidalis". Man macht sich auf die Suche und diskutiert dabei die Wahrscheinlichkeit, den Gast nach begangenem Suizid tot aufzufinden. Tatsächlich entdeckt man ihn am nächsten Morgen "beim Frühstück und (er) schreibe wie wild". Nach seiner Identität befragt, weist er sich als Hermann Burger aus, der sich zur Autorenschaft des "Tractatus" bekennt und die Nacht mit "der Serviertochter Ursula" verbracht haben will. Diese ersten zwölf Seiten eigenwilliger Prosa liefern einige Bezüge zu Werk [1] und Person [2] des Autors und deuten damit schon die Vielschichtigkeit des nachfolgenden Textes an. Der Titel und die Struktur des Buches orientieren sich an Ludwig Wittgensteins "Tractatus logico-philosophicus", in 1046 Paragraphen reflektiert Burger das Thema des Suizids auf vielfältige Weise. Er bedient sich dazu logischer, assoziativer, gegensätzlicher, humorvoller oder absurder Thesen, viele in Form von Aphorismen, die zusammen seine "Totologie" ergeben: "Totologie nennen wir die Lehre und Philosophie von der totalen Vorherrschaft des Todes über das Leben." (S. 19) Neben Ludwig Wittgenstein zitiert er ausführlich Jean Améry und Emile Cioran, die sich beide intensiv mit dem Thema Suizid befasst haben, Améry hat ihn schließlich auch vollzogen. Kleists Briefe kurz vor seinem (und Henriette Vogels) durch eigene Hand herbei geführten Tod beschreibt er als herausragend "in der Todesbestenliste aller Selbstmörder" (S. 123), durch die Abschiedsbriefe Klaus Manns fühlt er sich "eher unangenehm berührt" (S. 123). Camus und Kierkegaard liefern weitere Gedanken für Burgers totologische Betrachtungen. William Ellsworth Robinson (Künstlername Chung Ling Soo) und Houdini (beide Bühnenmagiere) haben ebenso wie Kafka nur vorgetäuscht, dass sie keinen Suizid begangen haben, indem erstere sich immer wieder in lebensgefährliche Situationen begeben haben, in denen (bzw. an deren Folgen) sie gestorben sind, Kafka hatte sich aus diesem Grund eine Tuberkulose zugelegt. Bizarr! Burger unterscheidet zwischen –"dem Suizidär, der den Selbstmord plant, sich mit dem Gedanken daran trägt" Burger selbst bezeichnet sich als "Suizidanten" (S. 191) und sein Text endet mit den 3 Paragraphen: 1044 Ich sterbe, also bin ich. Am 28. Februar 1989 nahm er sich das Leben [3]. Im Klappentext des 1 Jahr zuvor erschienenen Tractatus logico-suicidalis lesen wir: "Das Besondere, Individuelle: das ist Hermann Burgers persönliche Betroffenheit und die Faszination, über den Freitod zu berichten und ihn nicht zu suchen wie Kleist, Trakl und viele andere." So kann man sich täuschen. ---------------------------- 1. Blankenburg, Die Künstliche Mutter, Schilten, Der Schuß auf die Kanzel. 2. "...es traumatische Gründe gebe, so etwa das Verlassen der Ehe durch Frau und Kind, so die Kündigung der Stelle als Kulturredakteur beim Aargauer Tagblatt, so die jahrelange endogene Depression, das Zerbrechen von Freundschaften, die sexuelle Schande der Impotenz etcetera..." S. 13 3. Hermann Burger (1942 – 1989) arbeitete als Schriftsteller, Privatdozent und Journalist. Aus dem Nachruf Marcel Reich-Ranickis: "Ähnlich wie bei Thomas Bernhard dominierte auch in Burgers Prosa die Suada der Verzweiflung, die Eloquenz der Todesangst. Aber während dem Bernhardschen Werk eine in der deutschen Gegenwartsliteratur einzigartige Negativität zugrunde liegt, folgte Burger einem anderen Impuls: Aller Bitterkeit zum Trotz war seine Weltsicht frei von Haß und wütender Ablehnung, frei von Negativität." Erschienen am 3. März 1989 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. ---------------------------- 10. Mai 2023 |
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