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Hermann Burger Tractatus logico-suicidalis Selbsttötung Hermann Burger
Tractatus logico-sui­ci­da­lis.
Über die Selbsttötung.
S. Fischer 1988, 195 Sei­ten
ISBN 3-10-009618-5

In der Nacht vom 13. auf den 14. Jän­ner 1988 verschwindet der Gast aus Zimmer No. 7 des Bahn­hof­ho­tels in Gö­sche­nen am Nord­fuß des Sankt Gott­hard. Das Per­so­nal findet auf dem Kopfkissen ei­ne "An­lei­tung zum Selbstmord" und in einer Kom­mo­de ein Ma­nu­skript ohne Verfasserangabe mit dem Ti­tel "Tractatus logico-suicidalis". Man macht sich auf die Su­che und dis­ku­tiert dabei die Wahr­schein­lich­keit, den Gast nach be­gan­ge­nem Suizid tot auf­zu­fin­den. Tat­säch­lich ent­deckt man ihn am nächs­ten Morgen "beim Frühstück und (er) schrei­be wie wild". Nach seiner Iden­ti­tät befragt, weist er sich als Her­mann Burger aus, der sich zur Au­to­ren­schaft des "Trac­ta­tus" bekennt und die Nacht mit "der Ser­vier­toch­ter Ur­su­la" ver­bracht haben will.

Diese ersten zwölf Seiten ei­gen­wil­li­ger Prosa lie­fern ei­ni­ge Be­zü­ge zu Werk [1] und Per­son [2] des Au­tors und deu­ten da­mit schon die Viel­schich­tig­keit des nach­fol­gen­den Textes an.

Der Titel und die Struktur des Bu­ches orientieren sich an Lud­wig Wittgensteins "Trac­ta­tus logico-phi­lo­so­phi­cus", in 1046 Pa­ra­gra­phen reflektiert Bur­ger das Thema des Sui­zids auf viel­fäl­ti­ge Weise. Er be­dient sich dazu logischer, as­so­zi­a­ti­ver, ge­gen­sätz­li­cher, hu­mor­vol­ler oder absurder The­sen, vie­le in Form von Apho­ris­men, die zu­sam­men sei­ne "Totologie" er­ge­ben:

"Totologie nennen wir die Leh­re und Philosophie von der to­ta­len Vorherrschaft des To­des über das Le­ben." (S. 19)

Neben Ludwig Wittgenstein zi­tiert er ausführlich Jean Améry und Emile Cioran, die sich bei­de in­ten­siv mit dem The­ma Sui­zid befasst haben, Amé­ry hat ihn schließlich auch voll­zo­gen. Kleists Briefe kurz vor sei­nem (und Hen­riette Vogels) durch ei­ge­ne Hand herbei ge­führ­ten Tod be­schreibt er als he­raus­ra­gend "in der To­des­bes­ten­lis­te aller Selbst­mör­der" (S. 123), durch die Abschieds­briefe Klaus Manns fühlt er sich "eher un­an­ge­nehm be­rührt" (S. 123). Camus und Kier­ke­gaard liefern wei­te­re Ge­dan­ken für Burgers to­to­lo­gische Be­trach­tun­gen.

William Ellsworth Robinson (Künstlername Chung Ling Soo) und Houdini (beide Büh­nen­ma­gie­re) ha­ben ebenso wie Kafka nur vorgetäuscht, dass sie kei­nen Suizid be­gan­gen ha­ben, in­dem erstere sich im­mer wieder in le­bens­ge­fähr­liche Si­tu­a­tio­nen be­ge­ben ha­ben, in denen (bzw. an de­ren Folgen) sie ge­stor­ben sind, Kafka hatte sich aus die­sem Grund eine Tu­ber­ku­lo­se zu­ge­legt. Bizarr!

Burger unterscheidet zwi­schen

–"dem Suizidär, der den Selbst­mord plant, sich mit dem Ge­dan­ken daran trägt"
–"dem Suizidenten, der den Selbst­mord versucht, aber schei­tert"
–"dem Suizidanten, der den Selbst­mord erfolgreich durch­führt"
–"dem Suizidalisten oder to­to­lo­gischen Sui­zi­dan­ten, der sei­ne Tat wissenschaftlich be­grün­det"

Burger selbst bezeichnet sich als "Suizidanten" (S. 191) und sein Text endet mit den 3 Pa­ra­gra­phen:

1044 Ich sterbe, also bin ich.
1045 Was zu beweisen war.
1046 Finis.

Am 28. Februar 1989 nahm er sich das Leben [3]. Im Klap­pen­text des 1 Jahr zuvor er­schie­ne­nen Trac­ta­tus logico-sui­ci­da­lis lesen wir: "Das Be­son­de­re, Individuelle: das ist Her­mann Bur­gers per­sön­li­che Be­trof­fen­heit und die Fas­zi­na­tion, über den Freitod zu be­rich­ten und ihn nicht zu su­chen wie Kleist, Trakl und vie­le andere." So kann man sich täu­schen.

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1. Blankenburg, Die Künstliche Mut­ter, Schilten, Der Schuß auf die Kan­zel.

2. "...es traumatische Gründe ge­be, so etwa das Ver­las­sen der Ehe durch Frau und Kind, so die Kün­di­gung der Stel­le als Kul­tur­re­dak­teur beim Aargauer Tag­blatt, so die jah­re­lan­ge endogene De­pres­sion, das Zerbrechen von Freund­schaf­ten, die sexuelle Schan­de der Im­po­tenz etcetera..." S. 13

3. Hermann Burger (1942 – 1989) arbeitete als Schrift­stel­ler, Pri­vat­do­zent und Journalist. Aus dem Nach­ruf Mar­cel Reich-Ranickis: "Ähn­lich wie bei Tho­mas Bern­hard dominierte auch in Bur­gers Prosa die Suada der Ver­zweif­lung, die Eloquenz der To­des­angst. Aber wäh­rend dem Bern­hard­schen Werk eine in der deut­schen Ge­gen­warts­li­te­ra­tur ein­zig­ar­tige Ne­ga­ti­vi­tät zugrunde liegt, folgte Burger ei­nem an­de­ren Impuls: Aller Bit­ter­keit zum Trotz war seine Weltsicht frei von Haß und wü­ten­der Ab­leh­nung, frei von Ne­ga­ti­vi­tät." Er­schie­nen am 3. März 1989 in der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung.

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10. Mai 2023

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