Kassiber leer
Autoren Glossen Lyrik

Evelyne de la Chenelière Das Meer von fern Evelyne de la Che­ne­lière
Das Meer, von fern. Ro­man
Aus dem Fran­zö­si­schen (Québec) von Ger­da Posch­mann-Rei­che­nau.
müry salzmann 2019, 135 Sei­ten
ISBN 978-3-99014-185-4

Ihre Umgebung und ih­re Freun­de neh­men sie als das ide­a­le Paar wahr. Sie er­gän­zen ei­nan­der, sie spie­geln sich, sie träu­men die glei­chen Träu­me, man könnte von ei­ner Sym­bio­se spre­chen. Sie re­den wie aus einem Mund. Aber es ist et­was ge­sche­hen, das zu ihrer Tren­nung füh­ren soll. Wir er­le­ben sie in den Stun­den vor ih­rem letzten Tref­fen, Ni­co­le war­tet schon in dem Restaurant, in dem sie sich ver­ab­re­det ha­ben. Sie weiß, Pierre wird sich ver­spä­ten, er ver­spä­tet sich im­mer, und ist dennoch zur ver­ab­re­de­ten Zeit er­schie­nen. Pierre zö­gert seine An­kunft hinaus, er weiß, dass Ni­co­le da­mit rech­net, dass er zu spät kom­men wird, sie sind sich ja im­mer noch so nah, auch bei der Vor­be­rei­tung ihres Ab­schieds.

Pierre, auf dem Weg ins Res­tau­rant, und Nicole, dort war­tend, re­flek­tie­ren ihre ge­mein­sa­me Ver­gan­gen­heit und die Zeit davor. Prägende Mo­men­te, cha­rak­te­ris­ti­sche Ver­hal­tens­wei­sen, Spek­ta­ku­lä­res und Un­spek­ta­ku­lä­res taucht aus den Er­in­ne­run­gen auf, man­ches wirkt plötz­lich fremd. Fremd ge­nug, um den an­de­ren zu verlassen, das Ende der Be­zie­hung zu ak­zep­tie­ren?

Formal ist das in­te­res­sant ge­löst, denn die Ge­dan­ken und Er­in­ne­run­gen sind nicht sofort den beiden Pro­ta­go­nis­ten zu­zu­ord­nen. Erst mit der Zeit der fort­schrei­ten­den Lektüre be­merkt man geringe Un­ter­schie­de in den For­mu­lie­run­gen, in den Farb­tö­nun­gen der Spra­che, was aber auch im­mer wieder er­schwert wird durch Ein­schü­be, in de­nen die Äu­ße­run­gen der bei­den in­ei­nan­der fließen.

Als sie sich schließlich im Restaurant treffen und mit­ei­nan­der re­den, en­det der Text wie folgt:

"...lass uns hier weg­ge­hen, gut, lass uns wo­an­ders hin gehen, gut ge­hen wir, ganz weit weg, wenn du willst, wo­hin wirst du mich brin­gen, wohin du willst Ni­co­le, ver­sprich es, ver­spro­chen, auch wenn ich weit weg will bringst du mich hin, ja wohin du willst, ir­gend­wo­hin ans Meer, wenn du willst ans Meer, ja ans Meer ist gut, ist gut ans Meer ist gut, ich will schwim­men, gute Idee gehen wir schwim­men, ich will im Meer­was­ser schwim­men, gut Lieb­ling ge­hen wir."

Meine Interpretation: Ih­re Tren­nung ist eine Fol­ge der sym­bio­ti­schen Nähe, erst als sie dies er­ken­nen und die In­di­vi­dua­li­tät des/der An­de­ren wahr­neh­men, schafft das die Grund­la­ge für ei­nen Neu­an­fang.

Evelyne de la Che­ne­lière (*1975) ist fran­zö­sisch­spra­chi­ge Ka­na­die­rin, sie hat mehr als zwan­zig The­a­ter­stü­cke ge­schrie­ben und diesen ei­nen Ro­man. Sie stu­dier­te Li­te­ra­tur und The­a­ter in Paris und in Mon­tréal, gelegentlich tritt sie auch als Schau­spie­le­rin auf.

----------------------------

4. November 2023

Gelesen : Weiteres : Impressum