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Der Terror des Tumors

Das Gehirn der Ul­ri­ke Mein­hof liegt jetzt end­lich in 20 Mi­kro­me­ter dün­nen Schei­ben fein an­ge­rich­tet, je­de zwan­zigs­te in de­ko­ra­ti­vem Blau­schwarz, zum öf­fent­li­chen Ver­zehr be­reit. 26 Jah­re nach ih­rem Tod, des­sen Um­stän­de hef­tig um­strit­ten wa­ren, ar­bei­tet man auf. Auf Tu­mor komm raus. Nach ei­ner Odys­see von Tü­bin­gen durchs For­ma­lin nach Mag­de­burg ins Pa­raf­fin wag­te schließ­lich ein Hirn­for­scher [1] das, was an­de­re vor ihm ver­mie­den hat­ten. Wir wis­sen jetzt: Der Tu­mor war's!

Nahe am Mandelkern ge­le­gen, der auf­ge­nommene Rei­ze in ei­nen emotionalen Kon­text stellt, wur­de schon 1962 ein Blut­schwamm dia­gnos­ti­ziert, die Ur­sa­che für Kopf­schmer­zen und zeit­wei­lige Dop­pel­bil­der, über die Ulrike Mein­hof wäh­rend ihrer Schwan­ger­schaft klag­te. Bei ei­nem neu­ro­chi­rur­gi­schen Ein­griff wurde die Wu­che­rung mit Sil­ber­klam­mern zu­sam­men­ge­presst, die Ent­fer­nung er­schien zu riskant und wur­de des­halb nicht vor­ge­nom­men. Als Folge wird von star­ken Stim­mungs­schwan­kun­gen be­rich­tet, die sich mit der Zeit gelegt haben sollen. Ein Zu­sam­men­hang mit Schwan­ger­schaft und Geburt wird offen­bar aus­ge­schlos­sen.

Zum Zentrum langwieriger und er­bit­ter­ter Aus­ei­nan­der­set­zun­gen wird das Gehirn Ul­ri­ke Mein­hofs, als es der Bun­des­an­walt­schaft in den Sinn kommt, ein Gutachten an­fer­ti­gen zu las­sen, zur Not auch ge­gen den Willen der Ge­fan­ge­nen und un­ter An­wen­dung un­mit­tel­ba­rer Ge­walt. Ver­tei­di­ger, Ge­fan­ge­ne und Teile der Öf­fent­lich­keit weh­ren sich ve­he­ment da­ge­gen in der An­nah­me, eine Ex­po­nen­tin ra­di­ka­len Wider­stands solle da­mit ihrer Per­sön­lich­keit be­raubt und das, wo­für sie steht, zum Werk von Geis­tes­kran­ken er­klärt wer­den. Dass es Ge­richt und an­kla­gen­der Be­hör­de weder um ge­sund­heit­li­che Für­sor­ge­pflicht noch um ver­fah­rens­tech­nische Fair­ness oder eine ge­rech­te Ur­teils­fin­dung ging, dürf­te das Bei­spiel von Ka­tha­ri­na Ham­mer­schmidt [2] zei­gen, die 1975 in der Haft an den Folgen ei­nes nicht ent­deck­ten Tumors stirbt, obwohl sie selbst, ihre An­wäl­te, Freun­de und An­ge­hö­ri­ge im­mer wieder Anträge auf Hin­zu­zie­hung eines un­ab­hän­gi­gen Arz­tes ge­stellt hat­ten, die aus­nahms­los ab­ge­wie­sen wur­den.

Jetzt also, 26 Jahre nach ih­rem Tod, darf Ulrike Meinhofs Ge­hirn mit dem des Lehrers Ernst Au­gust Wagner ver­gli­chen wer­den [3], der 1913 im Glau­ben, man wisse um ei­ne von ihm be­gan­ge­ne, lange zu­rück­lie­gen­de sodomitische Es­ka­pa­de, erst seine Familie, dann ver­meint­li­che Mit­wis­ser, al­les in al­lem 14 Per­so­nen, zu To­de bringt. Die Ent­wicklung ei­nes Men­schen vom ra­di­ka­len Hu­ma­nis­mus zur Stadt­guerilla als Fol­ge eines Blut­schwamms? Die Zeit scheint über­fällig, sich mit einer Epo­che und ihren Ak­teu­ren auf einer Grund­lage aus­ei­nan­der zu setzen, die über eine phy­sio­logische Au­top­sie hinaus­geht. Ob 20 Mi­kro­me­ter dün­ne Schnitte die Sub­stanz be­rüh­ren, die zu den da­ma­li­gen Ereignissen ge­führt hat, er­scheint frag­lich. Zumal un­glück­li­cher­wei­se ver­säumt wur­de, die Gehirne der ver­ant­wort­li­chen Staats­be­diens­te­ten ent­spre­chend zu prä­pa­rie­ren, um sie für ver­gleich­bare Un­ter­su­chun­gen zur Ver­fü­gung stel­len zu kön­nen.

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1. Der Magdeburger Hirnforscher Bernhard Bogerts
2. siehe Wikipedia: Katharina Ham­mer­schmidt
3. siehe SPIEGEL vom 8. No­vem­ber 2002

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9. November 2002

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