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Peter Fleming: Die Belagerung zu Peking Peter Fleming
Die Belagerung zu Peking.
Zur Geschichte des Boxer-Aufstandes.
Eichborn Verlag 1997, 369 Seiten
ISBN 3-8218-4155-9

Der sogenannte Bo­xer-Auf­stand [1] brei­te­te sich ab dem Herbst 1899 vom Nor­den Chi­nas auf wei­te­re Tei­le des Lan­des aus und er­reich­te schließ­lich Pe­king. Ur­sprüng­lich ini­ti­iert von einer Ge­heim­ge­sell­schaft [2], die aber im Früh­jahr und Som­mer 1900 rasch breite Teile der Land­be­völ­ke­rung mo­bi­li­sie­ren konn­te, rich­te­te sich der Auf­stand glei­cher­maßen gegen christ­lich mis­sio­nier­te Chi­ne­sen als auch gegen die im Land ver­tre­te­nen aus­län­di­schen Mäch­te, die ihre wirt­schaft­li­chen In­te­res­sen rück­sichts­los und nicht sel­ten mit mili­tä­ri­scher Ge­walt durch­zu­set­zen wuss­ten. Die Demü­ti­gun­gen der bei­den Opium­krie­ge wa­ren un­ver­ges­sen [3].

Im Mai erreichte der Auf­stand die nähere Um­ge­bung Pe­kings. Die euro­pä­ischen Mäch­te (Eng­land, Deutsch­land, Russland, Frankreich, Ita­lien, Ös­ter­reich) ein­schließ­lich Japans und den USA be­rei­te­ten sich da­rauf­hin auf An­grif­fe gegen ihre Ge­sandt­schaften und christ­liche Mis­sions­nie­der­las­sun­gen vor, in­dem sie ihre mi­li­tärische Prä­senz ver­stärk­ten. Am 13. Ju­ni er­folg­te der erste Angriff der Boxer auf das Ge­sandt­schafts­viertel, man war den Auf­stän­di­schen zahlen­mäßig hoff­nungs­los un­ter­le­gen. Et­wa 20.000 Angreifern stan­den rund 475 aus­län­dische Zi­vi­lis­ten, etwa 2300 chi­ne­si­sche Christen so­wie 450 Sol­da­ten gegenüber, die hin­ter schnell errichteten Bar­ri­ka­den die ersten An­griffs­wellen ab­weh­ren konn­ten. Die Boxer setz­ten meh­re­re Ge­bäu­de in den Rand­bezir­ken des Ge­sandt­schafts­vier­tels in Brand und töteten alle christ­li­chen Chi­ne­sen, die sich nicht in eine der Ge­sandtschaften hatten ret­ten können. Zehn Ta­ge spä­ter fie­len einem sol­chen Brand große Teile der Hanlin-Aka­de­mie zum Opfer: "...die älteste und reichste Bib­lio­thek der Welt" [4].

Zur selben Zeit hatte sich ei­ne Rettungs­truppe (Sey­mour-Ex­pe­di­tion, ca. 2100 Sol­da­ten) Rich­tung Pe­king in Be­we­gung gesetzt, um die Ein­ge­schlos­senen zu be­frei­en. Man be­fürchtete an­ge­sichts des un­glei­chen Kräfte­ver­hältnis­ses ein Mas­sa­ker. Die Truppe wurde je­doch in Gefechte mit Re­gie­rungs­sol­daten und Auf­stän­di­schen ver­wickelt und soll­te Pe­king nie er­rei­chen.

Dort war man inzwischen von aktuellen Nach­rich­ten ab­ge­schnit­ten und hoffte weiter auf baldige Rettung. Die chi­ne­si­sche Regierung hatte die Ge­fech­te mit der Sey­mour-Trup­pe als In­va­sions­ver­such in­ter­pre­tiert und schickte of­fi­zielle Ein­hei­ten zur Be­la­ge­rung der Gesandt­schaften. Gleich­zei­tig bot die Re­gie­rung unter der Kai­serin­witwe, die an Stelle ih­res Sohnes die Macht aus­übte, eine Eva­ku­ie­rung der Aus­länder an, die von denen zuerst akzeptiert wurde, als es aber dann zu keinen kon­kre­ten Ver­hand­lun­gen über die Be­din­gun­gen des Abzugs kam, be­schloss man, das Ge­sandt­schafts­vier­tel vor­erst nicht zu ver­lassen.

Am 20. Juni wurde der deut­sche Gesandte Frei­herr von Kette­ler bei dem Versuch er­schos­sen, mit Regie­rungs­ver­tre­tern in Verhandlungen ein­zu­tre­ten [5]. Die Boxer, de­ren Nim­bus der Unver­wundbar­keit [6] durch die hohen Ver­lus­te, die sie bei den An­grif­fen auf die Ge­sandt­schaften er­lit­ten hat­ten, inzwi­schen stark gelitten hatte, waren in den letzten Tagen fast voll­ständig durch offizielle Trup­pen er­setzt worden. Es er­folg­ten An­grif­fe und Bom­bar­de­ments, die die Verteidiger einige äußere Stel­lun­gen auf­geben ließen. Man zog sich zurück, be­fes­tig­te die Bar­ri­ka­den und unter­nahm sogar einige Aus­fäl­le zur Ent­las­tung be­stimm­ter, be­son­ders be­dräng­ter Stel­lun­gen.

Nach einem Monat der Be­la­gerung wurden Munition und Le­bens­mit­tel knapp, die Si­tua­tion wurde zunehmend ver­zwei­felt. Man wusste nichts konkretes von den Ver­su­chen der alliierten Re­gie­run­gen, die Befreiung der Ein­ge­schlosse­nen zu or­ga­ni­sie­ren, man war sich über die Ziele und Stra­te­gien der Chi­ne­sen im Unklaren, Ta­gen der hef­tigsten Be­schüs­se folg­ten solche ohne be­son­dere Vor­komm­nisse, ein­mal trat so­gar ein Waf­fen­still­stand in Kraft.

Marsch der Alliierten auf PekingDie Alliierten hatten in der zwei­ten Julihälfte ein grö­ße­res Kon­tin­gent an Trup­pen (ca. 20.000 Mann) in Tient­sin zu­sam­men­ge­zo­gen [7], An­fang August be­gann der Marsch auf Pe­king. Mitte Au­gust wur­den die Tore Pe­kings ge­stürmt, die Be­la­ge­rung der Ge­sandt­schaf­ten wird durch­bro­chen, die Ein­ge­schlos­se­nen sind nach 55 Ta­gen wie­der frei [8].

Die ca. drei Kilometer nord­west­lich des Ge­sandt­schafts­ge­län­des gele­gene Pei­tang-Mis­sion stand aller­dings noch immer unter Be­la­ge­rung. Dort hatten sich mehr als 3000 Menschen (darunter weniger als 100 Europäer und nur 43 Marine­soldaten) erfolgreich ge­gen die Ver­su­che der Boxer verteidigt, die Mission zu stürmen und dem Erd­boden gleich zu machen [9]. Es dauerte noch einige Tage bis zu ihrer Be­freiung.

Nach der Eroberung des Ge­sandt­schafts­viertels wa­ren die chinesischen Trup­pen aus­ei­nan­der ge­fal­len, der kai­ser­li­che Hof befand sich auf der Flucht. Erst 1901 fanden Friedens­ver­hand­lun­gen ein En­de und schlugen sich in dem so­ge­nann­ten Boxer­pro­tokoll nie­der, in dem der chi­ne­si­schen Regierung eine Viel­zahl an Be­din­gun­gen und erhebliche Reparations­zah­lun­gen auf­er­legt wur­den.

Peter Fleming (1907-1971), Journalist und Rei­se­schrift­stel­ler, Bruder des James Bond Autors Ian Fleming, sah das Hauptproblem die­ser Epi­sode des Boxer­auf­stan­des in der fehlenden Kom­mu­ni­ka­tion zwischen den be­tei­lig­ten Kon­flikt­par­teien: Be­la­ger­te, An­grei­fer, Befreier wuss­ten je­weils nur wenig von den Mög­lich­kei­ten und Zielen der anderen, die Folge war das Chaos, das er in dem Buch minutiös zu be­schrei­ben ver­sucht. Dazu gab es innerhalb des chinesischen Macht­ap­pa­ra­tes wider­strei­tende In­te­res­sen. Der Kreis um die Kai­serin­witwe ver­folg­te eine ra­di­ka­le Politik der Aus­löschung und Vertreibung ge­gen­über Ausländern und ge­tauf­ten Chi­ne­sen. An­de­re Gruppen wären zu einer wirt­schaft­lichen Zu­sam­men­ar­beit bereit gewesen. Fle­ming sieht in diesen Wi­der­sprü­chen mög­liche Gründe für das Über­leben der in den Gesandt­schaften Be­la­ger­ten, denn mi­li­tä­risch hätte es den chi­ne­sischen Truppen ein Leichtes sein müssen, bei kon­se­quen­ter An­wen­dung schwe­rer Ge­schütze, das Ge­lände binnen we­ni­ger Tage zu erobern. Flemings Blick auf das Ge­sche­hen ist ein euro­päischer. Auch wenn er ge­le­gent­lich Plün­de­run­gen und Über­griffe der alliierten Trup­pen er­wähnt, sind es doch die Chinesen, die – von sehr wenigen Aus­nah­men ab­ge­se­hen – aber­gläubisch bis zur Raserei und blut­gierig die Aus­lö­schung alles Frem­den anstreb­ten.

Das Buch ist ursprünglich schon 1959 im eng­li­schen Ori­gi­nal er­schie­nen, die deut­sche Über­setzung folgte 1961. Hans Magnus En­zens­ber­ger hat es 1997 un­ver­ändert als 155. Band in die Andere Bibliothek auf­ge­nom­men. Neu ist das Nach­wort von Petra Kolonko, die be­sonders die deutsche Be­tei­li­gung an der Aus­beu­tung Chinas und der Be­kämp­fung des Auf­stan­des her­vor­hebt.

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1. "Der Beiname 'Boxer' war der Be­wegung in ihren frühen Ta­gen von Missionaren im Innern bei­ge­legt wor­den, die als Lo­kal­korrespondenten der North Chi­na Daily News in Shanghai, der führenden fremd­sprachigen Zei­tung Chinas, tätig waren, und der Name blieb haften." S. 54

2. Fäuste oder Faustkämpfer der/­für Gerechtigkeit und Har­mo­nie, im 19. Jahrhundert her­vor­ge­gan­gen aus der Ge­heim­sek­te Weißer Lotus.

3. Großbritannien nahm die Be­schlagnahmung von Opium, des­sen Konsum in China ver­bo­ten war, das aber von britischen Händ­lern eingeführt werden soll­te, zum Anlass, eine mili­tärische Straf­expedition durch­zuführen (1839 bis 1842), die mit der Nieder­lage Chinas und der erzwungenen Öffnung für den Import europäischer Wa­ren. Im zweiten Opiumkrieg (1856 bis 1860) erzwangen Groß­britannien und Frankreich wei­tere Außen­han­dels­er­leich­terungen. Wäh­rend der Kämpfe wurde der Kai­ser­liche Som­mer­pa­last in Peking zerstört.

4. "Es gibt keinen vollständigen Ka­ta­log ihres unersetzlichen In­halts; unter anderem enthielt sie die Yung Lo Ta Tien, eine En­zy­klopä­die, die von dem zweiten Ming-Kaiser in Autrag gegeben wor­den war. Sie war 1407 voll­en­det worden, nachdem etwa 2000 Gelehrte daran ge­ar­bei­tet hatn­ten. Dieses erstaun­liche Werk ver­körperte «die Subs­tanz aller klassischen, his­to­ri­schen, philo­sophi­schen und li­te­ra­rischen Werke, die bis dahin ver­öffent­licht worden waren, ein­schließ­lich der Astro­nomie, der Geo­gra­phie, der okkulten Wis­sen­schaf­ten, der Medizin, des Bud­dhis­mus, des Taoismus und der Künste». Sie umfaßte mehr als 25000 Bände. Der Yung Lo Ta Tien ist niemals gedruckt worden, und die einzige Kopie war bei einem Brand im 16. Jahrhundert zerstört worden." S. 150f

5. Zuvor, am 11. Juni, war schon der Kanzler der ja­pa­ni­schen Ge­sandt­schaft von of­fi­ziel­len chi­ne­si­schen Truppen ge­lyncht wor­den. "Diese Ge­walt­tat scheint die europäischen Diplomaten nicht in dem Maße entsetzt zu haben, wie man hätte erwarten können; zum Teil vielleicht, weil der japanische Kanzler Asiate war, aber doch wohl mehr, weil seine Er­mor­dung nur eines der vielen alarmierenden Vorzeichen war, die ringsum auftauchten." S. 110

6. "Ihre Behauptung, un­ver­wund­bar zu sein, hatte für sie die größ­te Bedeutung, be­son­ders, nach­dem so­wohl der Mandschu-Hof als auch die Dörfer dieser The­se, wenn auch nur eine Zeit­lang, Glauben ge­schenkt hatten." S. 55

7. "Die Expedition setzte sich, in run­den Zahlen, wie folgt zu­sam­men: Japaner 10000, Rus­sen 4000, Engländer 3000, Ame­ri­ka­ner 2000, Franzosen 800, Deut­sche 100, Ös­ter­rei­cher und Italiener 100." S. 233

8. "Der chinesische Widerstand er­losch schnell. Bei Sonnen­auf­gang wehten die aus­län­dischen Fahnen auf den Mauern, und Tientsin, von dem große Teile in Flammen standen, wurde wahl­los geplündert." S. 208
"Die Belagerung der Gesandt­schaften hatte 55 Tage ge­dauert. 66 Ausländer waren getötet und über 150 verwundet worden; zwei Erwachsene und sechs Klein­kinder waren eines na­tür­lichen Todes gestorben. Die chi­ne­si­schen Verluste in­ner­halb des bela­gerten Ge­län­des sind nicht aufgezeichnet worden." S. 269

9. "Die Verteidigung der Peitang, der Nordkathedrale, war aus ver­schiedenen Grün­den eine bedeu­tendere Waffen­tat als die der Ge­sandt­schaf­ten. Der be­la­ger­te Ab­schnitt war zwar an Umfang etwas kleiner als der der Di­plo­ma­ten, aber im Verhältnis zu seiner kleinen Besatzung, die aus zwei jungen Offizieren und 41 Ma­ri­ne­sol­da­ten bestand, er­schien er unübersehbar groß." S. 271

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10. August 2020

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