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Gaito Gasdanow Das Phantom des Alexander Wolf Gaito Gasdanow
Das Phantom des Ale­xan­der Wolf. Roman.
Übersetzt und mit ei­nem Nachwort von Rosemarie Tietze.
Carl Hanser Verlag, München 2012, 192 Sei­ten, ISBN 9783446238534

Der Roman beginnt mit der Er­in­ne­rung des Ich-Er­zäh­lers, ei­nes 31-jäh­ri­gen Exilrussen, der 1936 in Pa­ris lebt, an ei­nen Mord, den er 15 Jah­re zu­vor im rus­si­schen Bür­ger­krieg be­gan­gen hat­te. Er war da­mals 16 Jah­re alt und er­schoss einen feind­li­chen Rei­ter, der ihn an­ge­grif­fen hatte. Die Tat und die Um­stän­de, un­ter de­nen sie statt­ge­fun­den hat, be­stim­men im­mer wie­der die Ge­dan­ken des na­men­lo­sen Er­zäh­lers.

Durch Zufall stößt er auf ein Buch des Autors Ale­xan­der Wolf, in dem ei­ne Geschichte exakt die­ses Er­eig­nis aus der Per­spek­ti­ve des Opfers be­schreibt. Dies führt den Er­zäh­ler in ei­ne in­ten­si­ve Su­che nach Ale­xan­der Wolf, der, wie sich he­raus­stellt, eben je­ner ver­meint­lich Er­schos­se­ne ist, der je­doch in letzter Mi­nu­te ge­ret­tet worden war.

Der Erzähler, der als Jour­na­list arbeitet, lernt wäh­rend ei­nes Box­kampfs Jelena Ni­ko­la­jew­na Arm­strong ken­nen, die ihn fas­zi­niert und irritiert. Selbst nach­dem sie ein Lie­bes­paar ge­wor­den sind, er­scheint sie ihm dis­tan­ziert, fast un­be­tei­ligt, und es dau­ert lan­ge, bis sie ihm of­fen­bart, dass ihr letz­ter Lieb­ha­ber ihr We­sen nach­hal­tig ver­än­dert hat durch sei­ne Sicht auf die Welt. Sie ahnt, dass er sie sucht und fürchtet den Mo­ment der Kon­fron­ta­tion.

Bei einer weiteren zu­fäl­li­gen Be­geg­nung lernt der Pro­ta­go­nist ei­nen anderen Exil­rus­sen ken­nen, Wla­di­mir Pe­tro­witsch Wos­nes­sens­ki, der, wie sich he­raus­stellt, ein alter Kampf­ge­nos­se Ale­xan­der (Sa­scha) Wolfs gewesen und noch im­mer mit ihm be­freun­det ist. Nach ei­ni­gen Ver­zö­ge­run­gen kommt es zu einem Zu­sam­men­tref­fen des Er­zäh­lers mit Wolf. Wie sich langsam he­raus­kris­tal­li­siert ist Wolf der Mann, des­sen Ver­fol­gung Je­le­na fürch­tet, die Be­zie­hung der bei­den Män­ner er­reicht ih­ren dramatischen Höhe­punkt, den nur ei­ner von ih­nen über­lebt.

Das zentrale Thema des Ro­mans ist die Un­aus­weich­lich­keit des Schick­sals, jeder Schritt, so zu­fäl­lig er auch schei­nen mag, führt die drei Haupt­per­so­nen dem Moment ent­ge­gen, der – ähn­lich dem Tris­tan­ak­kord bei Ri­chard Wag­ner – die Span­nung der Er­eig­nis­se und die Kon­flik­te der Per­so­nen auf­ei­nan­der pral­len lässt und auflöst. Pro­ble­ma­ti­siert wird die Sinn­haf­tig­keit des Le­bens und die Macht des To­des, die die Exis­tenz der Pro­ta­go­nis­ten durch­zieht und mit­ei­nan­der ver­knüpft. Gas­da­now er­kun­det die psy­cho­lo­gi­schen und phi­lo­so­phi­schen Di­men­sio­nen des mensch­li­chen Da­seins durch ei­ne kunst­vol­le und nach­denk­li­che Er­zähl­wei­se. Er ver­webt die Schick­sa­le sei­ner Cha­rak­te­re und lässt ih­re in­ne­ren Kämp­fe und äu­ße­ren Be­geg­nun­gen in ei­nem kom­ple­xen Ge­flecht aus Er­in­ne­run­gen und Zu­fäl­len mit­ei­nan­der kol­li­die­ren und in­ei­nan­der spie­geln.

Gaito Gasdanow (1903-1971) kämpf­te während des rus­si­schen Bür­ger­kriegs nach der Ok­to­ber­re­vo­lu­tion – 16-jäh­rig – auf Seiten der Wei­ßen Ar­mee und ge­lang­te – nach de­ren Nie­der­la­ge – über die Tür­kei und Bul­ga­rien nach Paris, wo er sich mit ver­schie­de­nen Tä­tig­kei­ten sei­nen Le­bens­un­ter­halt ver­dien­te. Als Teil der rus­si­schen Exil­ge­mein­de be­gann er ei­ge­ne Tex­te in deren Zeit­schrif­ten zu pu­bli­zie­ren. Wäh­rend sei­ner Mit­ar­beit bei "Ra­dio Li­ber­ty" leb­te er zeit­wei­lig in Mün­chen, wo er auch starb. "Das Phan­tom des Ale­xan­der Wolf" er­schien zu­erst 1948 in rus­si­scher Spra­che und 2012 in der deut­schen Über­set­zung von Ro­se­ma­rie Tietze. Erst nach dem Zerfall der Sow­jet­uni­on durf­ten sei­ne Wer­ke in sei­ner rus­si­schen Hei­mat er­schei­nen. Sei­ne li­te­ra­ri­sche Be­deu­tung wird mit der Nina Ber­be­ro­was, Vla­di­mir Na­bo­kovs und Al­bert Ca­mus' verglichen. Für mich war es ei­ne gro­ße Ent­de­ckung.


31. Juli 2024

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