Kassiber | |||||
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Gaito Gasdanow Der Roman beginnt mit der Erinnerung des Ich-Erzählers, eines 31-jährigen Exilrussen, der 1936 in Paris lebt, an einen Mord, den er 15 Jahre zuvor im russischen Bürgerkrieg begangen hatte. Er war damals 16 Jahre alt und erschoss einen feindlichen Reiter, der ihn angegriffen hatte. Die Tat und die Umstände, unter denen sie stattgefunden hat, bestimmen immer wieder die Gedanken des namenlosen Erzählers. Durch Zufall stößt er auf ein Buch des Autors Alexander Wolf, in dem eine Geschichte exakt dieses Ereignis aus der Perspektive des Opfers beschreibt. Dies führt den Erzähler in eine intensive Suche nach Alexander Wolf, der, wie sich herausstellt, eben jener vermeintlich Erschossene ist, der jedoch in letzter Minute gerettet worden war. Der Erzähler, der als Journalist arbeitet, lernt während eines Boxkampfs Jelena Nikolajewna Armstrong kennen, die ihn fasziniert und irritiert. Selbst nachdem sie ein Liebespaar geworden sind, erscheint sie ihm distanziert, fast unbeteiligt, und es dauert lange, bis sie ihm offenbart, dass ihr letzter Liebhaber ihr Wesen nachhaltig verändert hat durch seine Sicht auf die Welt. Sie ahnt, dass er sie sucht und fürchtet den Moment der Konfrontation. Bei einer weiteren zufälligen Begegnung lernt der Protagonist einen anderen Exilrussen kennen, Wladimir Petrowitsch Wosnessenski, der, wie sich herausstellt, ein alter Kampfgenosse Alexander (Sascha) Wolfs gewesen und noch immer mit ihm befreundet ist. Nach einigen Verzögerungen kommt es zu einem Zusammentreffen des Erzählers mit Wolf. Wie sich langsam herauskristallisiert ist Wolf der Mann, dessen Verfolgung Jelena fürchtet, die Beziehung der beiden Männer erreicht ihren dramatischen Höhepunkt, den nur einer von ihnen überlebt. Das zentrale Thema des Romans ist die Unausweichlichkeit des Schicksals, jeder Schritt, so zufällig er auch scheinen mag, führt die drei Hauptpersonen dem Moment entgegen, der – ähnlich dem Tristanakkord bei Richard Wagner – die Spannung der Ereignisse und die Konflikte der Personen aufeinander prallen lässt und auflöst. Problematisiert wird die Sinnhaftigkeit des Lebens und die Macht des Todes, die die Existenz der Protagonisten durchzieht und miteinander verknüpft. Gasdanow erkundet die psychologischen und philosophischen Dimensionen des menschlichen Daseins durch eine kunstvolle und nachdenkliche Erzählweise. Er verwebt die Schicksale seiner Charaktere und lässt ihre inneren Kämpfe und äußeren Begegnungen in einem komplexen Geflecht aus Erinnerungen und Zufällen miteinander kollidieren und ineinander spiegeln. Gaito Gasdanow (1903-1971) kämpfte während des russischen Bürgerkriegs nach der Oktoberrevolution – 16-jährig – auf Seiten der Weißen Armee und gelangte – nach deren Niederlage – über die Türkei und Bulgarien nach Paris, wo er sich mit verschiedenen Tätigkeiten seinen Lebensunterhalt verdiente. Als Teil der russischen Exilgemeinde begann er eigene Texte in deren Zeitschriften zu publizieren. Während seiner Mitarbeit bei "Radio Liberty" lebte er zeitweilig in München, wo er auch starb. "Das Phantom des Alexander Wolf" erschien zuerst 1948 in russischer Sprache und 2012 in der deutschen Übersetzung von Rosemarie Tietze. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion durften seine Werke in seiner russischen Heimat erscheinen. Seine literarische Bedeutung wird mit der Nina Berberowas, Vladimir Nabokovs und Albert Camus' verglichen. Für mich war es eine große Entdeckung. 31. Juli 2024 |
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