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Am 5. Januar 1895 wird der Hauptmann der französischen Armee, Alfred Dreyfus, öffentlich degradiert. Die Epauletten werden von seinen Schultern gerissen, die Knöpfe von der Uniformjacke und die roten Streifen von der Hose, sein Säbel wird zerbrochen. Anschließend muss er an den angetretenen zwei Kompanien ehemaliger Kameraden entlang marschieren, denen ihre ganze Verachtung für den Vaterlandsverräter anzusehen ist. Ein Kriegsgericht hatte ihn einstimmig des Hochverrats für schuldig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt, er wird deportiert werden auf die Ile du Diable [1], wo er der einzige Gefangene sein wird. Dreyfus war 1859 in Mulhouse im Elsass geboren worden, er sprach Französisch mit deutschem Einschlag, und er war Jude. Nach der Niederlage Frankreichs im Krieg 1870/71 gegen Deutschland war Mülhausen dem Deutschen Reich einverleibt worden, darüber herrschte nach wie vor Verbitterung in der Bevölkerung und man war misstrauisch gegenüber Elsässern. Aber vor allem traute man Juden, dem »Volk ohne Heimat«, jeden Verrat, jede Schandtat zu. Marie-Georges Picquart [2] wird im selben Jahr, in dem Dreyfus degradiert und deportiert worden war, zum Leiter des Deuxieme Bureau (im Roman Statistik-Abteilung genannt), dem Auslandsgeheimdienst der französischen Armee, ernannt. Man fordert ihn auf, nach weiteren Beweisen für Dreyfus' Schuld zu suchen. Dabei stößt er auf Hinweise, dass es einen weiteren Verräter in den Reihen der französischen Armee geben muss. Schließlich gelangt er zu der Überzeugung, dass nicht Dreyfus der Verräter gewesen ist, der Informationen an die Deutsche Botschaft verkauft hat, sondern ein anderer: Major Esterhazy, der schon in der Vergangenheit durch dubioses Finanzgebaren aufgefallen war. Seine Vorgesetzten und mehrere Minister bestehen auf Dreyfus' Schuld, aber Picquart findet schließlich heraus, dass die Beweise gegen Dreyfus zum Teil gefälscht, zum anderen Teil falsch interpretiert worden sind. Man schiebt ihn nach Nordafrika ab, es kommt zu mehreren Verfahren, die sich jetzt auch gegen ihn richten, Dreyfus wird erneut für schuldig befunden. Nach und nach finden sich Personen, die ebenfalls Zweifel an Dreyfus' Schuld hegen, man fordert eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Doch die Machthaber schlagen zurück, Picquart wird verhaftet, Zola verurteilt [3] (er flieht nach London), Beweise werden gefälscht, Verleumdungen in die Welt gesetzt, potentielle Zeugen begehen Suizid usw. Picquart wird unehrenhaft aus der Armee entlassen. Doch seine Hartnäckigkeit trägt Früchte. In einem weiteren Verfahren wird Dreyfus' Strafe auf 10 Jahre reduziert, später wird er begnadigt werden. Erst 1906 wird Dreyfus von allen Vorwürfen freigesprochen und Picquart ebenfalls rehabilitiert, er wird noch im selben Jahr zum Kriegsminister ernannt [4]. Obwohl der Roman viele Details zu den gefälschten Beweisen aufführt und die diversen Vernehmungen ausführlich dargestellt werden, bleibt die Spannung – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auf hohem Niveau erhalten. Der Antisemitismus, der damals in Frankreich so weit verbreitet war, dass man die Stimmung gegen Dreyfus quasi nach Belieben steuern konnte, wird eindringlich geschildert, selbst Picquart ist von ihm durchdrungen, er behält bis zum Schluss dem Menschen Dreyfus gegenüber seine Vorbehalte, vor allem weil er Jude ist. Nur der Drang nach Gerechtigkeit und der Wunsch, seine geliebte Armee von jedem Fehlverhalten zu reinigen, lässt ihn sich derart engagieren, dass er selbst zum Opfer wird. Im Kern der Macht keimt aber immer auch ihr Missbrauch. Das hat sich seitdem nicht geändert. ---------------------------- 1. Teufelsinsel, Französisch-Guayana. Wurde zwischen 1852 und 1946 als Strafkolonie für verurteilte Schwerverbrecher genutzt. Viele Gefangene überlebten die unmenschlichen Haftbedingungen nicht. 2. *1854 in Strasbourg, † 1914 in Amiens. 3. Am 13. Januar 1898 erschien in der liberalen Zeitschrift L'Aurore Zolas offener Brief an den Präsidenten der Französischen Republik, Félix Faure, mit der inzwischen legendären Überschrift J'Accuse...!. Darin zählt er all die Gründe auf, die gegen Dreyfus als Verräter sprechen und klagt diejenigen an, die sich bewusst für eine Verurteilung Dreifus' und für den Freispruch von Esterhazy engagiert haben. Er will damit einen Prozess gegen sich selbst provozieren, in dem dann erneut über Dreyfus und Esterhazy verhandelt werden könnte. Doch man reduziert die Anklage gegen ihn auf nur drei Passagen aus seinem Brief, Dreyfus und Esterhazy dürfen in dem Verfahren gegen ihn nicht erwähnt werden. Zola wird wegen Beleidigung zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe in Höhe von 3000 Francs verurteilt. Auf Rat seiner Verteidiger entzieht er sich der Strafe Mitte Juli 1898 durch seine Flucht nach London. 4. Ernannt wurde er vom Ministerpräsidenten Georges Clemenceau, der 1898 Herausgeber der Zeitschrift L'Aurore war, in der Zola seinen offenen Brief J'Accuse veröffentlichen konnte. ---------------------------- 31. Juli 2020 |
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