Kassiber | |||||
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Andrew Michael Hurley Eine kleine Gruppe strenggläubiger katholischer Christen aus London pilgert jedes Jahr zum Schrein der Heiligen Anna [1] im Nordwesten Englands. Nach dem Tod ihres konservativen Gemeindepfarrers Wilfred wird diese Tradition für einige Jahre unterbrochen. Doch nun hat man sich entschieden, erneut zur Heiligen Anna zu pilgern, um dort für ein Wunder zu beten, das Hanny, den Sohn der Familie Smith, heilen soll. Er ist stumm und geistig etwas zurück geblieben. Begleitet wird die Gruppe von dem neuen Pfarrer Bernard, der erheblich weniger streng im Glauben ist als sein Vorgänger, sehr zum Missfallen der Mutter Smith, die ihn bei jeder Gelegenheit korrigiert. Die Gruppe logiert in einem einsam gelegenen Haus, das von einer Art Hausmeister in Stand gehalten wird. Man betet viel und sucht schließlich den etwas verwahrlosten Schrein der Heiligen Anna auf. Hanny widersetzt sich dem Ritual und es kommt zu einer unschönen Szene zwischen ihm und seiner Mutter, die ihn mit körperlicher Gewalt zur Einhaltung des Procederes zwingen will. Zur Enttäuschung aller bleibt das erhoffte Wunder der Heilung Hannys aus. Die Atmosphäre ist trist und beklemmend. Regen und das eigenartige Verhalten einiger Einheimischer lassen den Wunsch nach einem vorzeitigen Abbruch der Pilgerschaft wachsen. Tonto, der jüngere Bruder Hannys und in gewisser Weise sein Bindeglied zum Rest der Welt, und Hanny beobachten die Bewohner eines Hauses, das nur bei Ebbe erreichbar ist. Ein hochschwangeres Mädchen, ein dubioses Paar, ein großer Betrag versteckten Geldes, aufdringliche und bedrohliche Männer lassen der Phantasie viel Spielraum und steigern das Unbehagen bei Tonto und den anderen. Als dann auch noch bei einem Spaziergang eine blasphemische Parodie auf die Kreuzigung Jesu entdeckt wird, entschließt sich die Gruppe zur Rückkehr nach London. Doch zuvor müssen Tonto und Hanny noch einmal zu dem unheimlichen Haus und erleben dort etwas, das nur ansatzweise beschrieben wird, es sind die fragmentarischen Erinnerungen Tontos, der das dreißig Jahre später seinem Therapeuten berichtet. Ein schreiendes Neugeborenes, ein Ritual, ein Gewehr, ein Schuss... und wenig später ist Hanny geheilt. Das Wunder ist geschehen, aber was die Ursache dafür war, bleibt ebenso im Unklaren wie der Grund für Hannys Behinderung. Auch den Lesern bleibt viel Raum, die Lücken der Erzählung zu füllen, und das macht den Reiz dieses Romans zu einem großen Teil aus. Hatte der konservative Pfarrer Wilfred am Ende seinen Glauben verloren, wie es aus dem von Tonto zufällig gefundenen Tagebuch hervor zu gehen scheint? War sein Tod kein Unfall sondern ein Suizid? Wer löste den Schuss aus und was bewirkte die Heilung Hannys, der sich anschließend – und ganz entgegen seinem bisherigen Verhalten – der Theologie zuwendet und selbst zum Gemeindepfarrer wird? Sind Tonto und Hanny Zeugen eines satanistischen Rituals geworden und waren sie vielleicht sogar ein Teil davon? Wir werden Zeugen der Erinnerungslücken, der Verdrängungen, die über Tonto liegen wie ein Fluch. Und als 30 Jahre nach dem Geschehen bei einem Erdrutsch die Leiche eines Babys freigelegt wird, sieht er sich veranlasst, alles aufzuschreiben. Aber wozu? Um die Wahrheit über die Vergangenheit aufzudecken? Oder um sie zu verschleiern? Ein düsterer Roman, der zahlreiche Gothic-Elemente enthält, meiner Ansicht nach aber auch psychoanalytisch gelesen werden kann. 1. Vermeintlich die Mutter Marias, die ebenfalls "unbefleckt" empfangen wurde. Ihr werden zahlreiche Wunder zugesprochen. 19. Oktober 2024 |
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