Kassiber leer
Autoren Glossen Lyrik

Andrew Michael Hurley Loney Andrew Michael Hurley
Loney. Roman.
Aus dem Englischen von Yasemin Dincer.
Ullstein Verlag 2016, 383 Sei­ten, ISBN 978-3-550-08137-8

Eine kleine Gruppe streng­gläu­bi­ger ka­tho­li­scher Chris­ten aus Lon­don pil­gert je­des Jahr zum Schrein der Hei­li­gen Anna [1] im Nord­wes­ten Eng­lands. Nach dem Tod ih­res kon­ser­va­ti­ven Ge­mein­de­pfar­rers Wil­fred wird die­se Tra­di­tion für ei­ni­ge Jah­re un­ter­bro­chen. Doch nun hat man sich ent­schie­den, erneut zur Hei­li­gen Anna zu pil­gern, um dort für ein Wun­der zu be­ten, das Han­ny, den Sohn der Fa­mi­lie Smith, heilen soll. Er ist stumm und geis­tig et­was zu­rück ge­blie­ben.

Begleitet wird die Grup­pe von dem neuen Pfar­rer Ber­nard, der er­heb­lich weniger streng im Glau­ben ist als sein Vor­gän­ger, sehr zum Miss­fal­len der Mut­ter Smith, die ihn bei je­der Ge­le­gen­heit kor­ri­giert. Die Gruppe logiert in ei­nem ein­sam ge­le­ge­nen Haus, das von ei­ner Art Haus­meis­ter in Stand ge­hal­ten wird.

Man betet viel und sucht schließlich den et­was ver­wahr­los­ten Schrein der Hei­li­gen Anna auf. Hanny wi­der­setzt sich dem Ri­tual und es kommt zu einer un­schö­nen Sze­ne zwi­schen ihm und sei­ner Mut­ter, die ihn mit kör­per­li­cher Ge­walt zur Ein­hal­tung des Pro­ce­de­res zwingen will. Zur Ent­täu­schung aller bleibt das erhoffte Wun­der der Hei­lung Han­nys aus.

Die Atmosphäre ist trist und be­klem­mend. Re­gen und das ei­gen­ar­ti­ge Ver­hal­ten ei­ni­ger Ein­hei­mi­scher lassen den Wunsch nach ei­nem vor­zei­ti­gen Ab­bruch der Pil­ger­schaft wach­sen. Ton­to, der jün­ge­re Bru­der Hannys und in ge­wis­ser Wei­se sein Bin­de­glied zum Rest der Welt, und Han­ny be­ob­ach­ten die Be­woh­ner ei­nes Hau­ses, das nur bei Eb­be er­reich­bar ist. Ein hoch­schwan­ge­res Mäd­chen, ein du­bio­ses Paar, ein gro­ßer Be­trag ver­steck­ten Gel­des, auf­dring­li­che und be­droh­li­che Män­ner las­sen der Phan­ta­sie viel Spiel­raum und stei­gern das Un­be­ha­gen bei Ton­to und den an­de­ren. Als dann auch noch bei ei­nem Spa­zier­gang ei­ne blas­phe­mi­sche Pa­ro­die auf die Kreu­zi­gung Jesu ent­deckt wird, ent­schließt sich die Grup­pe zur Rück­kehr nach Lon­don. Doch zu­vor müs­sen Ton­to und Han­ny noch ein­mal zu dem un­heim­li­chen Haus und er­le­ben dort et­was, das nur an­satz­wei­se be­schrie­ben wird, es sind die frag­men­ta­ri­schen Er­in­ne­run­gen Ton­tos, der das drei­ßig Jah­re spä­ter sei­nem The­ra­peu­ten be­rich­tet. Ein schrei­en­des Neu­ge­bo­re­nes, ein Ri­tual, ein Ge­wehr, ein Schuss... und we­nig spä­ter ist Han­ny ge­heilt.

Das Wunder ist ge­sche­hen, aber was die Ur­sa­che da­für war, bleibt eben­so im Un­kla­ren wie der Grund für Han­nys Be­hin­de­rung.

Auch den Lesern bleibt viel Raum, die Lücken der Er­zäh­lung zu füllen, und das macht den Reiz die­ses Romans zu ei­nem gro­ßen Teil aus. Hat­te der kon­ser­va­ti­ve Pfar­rer Wil­fred am En­de sei­nen Glau­ben ver­lo­ren, wie es aus dem von Tonto zu­fäl­lig ge­fun­de­nen Ta­ge­buch her­vor zu gehen scheint? War sein Tod kein Un­fall sondern ein Sui­zid? Wer lös­te den Schuss aus und was be­wirk­te die Hei­lung Han­nys, der sich an­schlie­ßend – und ganz ent­ge­gen sei­nem bis­he­ri­gen Ver­hal­ten – der Theo­lo­gie zu­wen­det und selbst zum Ge­mein­de­pfar­rer wird? Sind Tonto und Han­ny Zeu­gen eines sa­ta­nis­ti­schen Ri­tuals ge­wor­den und wa­ren sie viel­leicht so­gar ein Teil da­von? Wir wer­den Zeu­gen der Er­in­ne­rungs­lü­cken, der Ver­drän­gungen, die über Ton­to lie­gen wie ein Fluch. Und als 30 Jah­re nach dem Ge­sche­hen bei ei­nem Erd­rutsch die Lei­che ei­nes Ba­bys frei­ge­legt wird, sieht er sich ver­an­lasst, al­les auf­zu­schrei­ben. Aber wo­zu? Um die Wahr­heit über die Ver­gan­gen­heit auf­zu­de­cken? Oder um sie zu ver­schlei­ern?

Ein düsterer Roman, der zahl­rei­che Gothic-Ele­men­te ent­hält, mei­ner Ansicht nach aber auch psy­cho­a­na­ly­tisch ge­le­sen wer­den kann.


1. Vermeintlich die Mutter Ma­rias, die ebenfalls "un­be­fleckt" emp­fan­gen wur­de. Ihr werden zahl­rei­che Wun­der zu­ge­spro­chen.


19. Oktober 2024

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