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Vladimir Jankélévitch: Maurice Ravel Vladimir Jankélévitch
Maurice Ravel in Selbst­zeug­nis­sen und Bild­do­ku­men­ten
Rowohlt 1958, 167 Seiten

Vladimir Jankélé­vitchs (1903 – 1985) Mo­no­gra­phie über Mau­rice Ravel ist keine Bio­gra­phie, es ist eine de­tail­lierte Stu­die über seine Mu­sik. Er struk­tu­riert da­zu seine Unter­su­chung in drei zeitliche Epo­chen, in verschiedene kom­po­si­to­ri­sche Elemente und meh­re­re Aus­drucks­for­men. Das hat Über­schneidungen zur Fol­ge, die aber zu keiner Re­dun­danz füh­ren, sondern zur Ver­tie­fung der Analyse bei­tra­gen.

In einem ein­führenden Kapitel be­schreibt Jan­ké­lé­vitch die mu­si­ka­li­sche Ent­wick­lung Ra­vels pa­ral­lell zu einigen we­ni­gen bio­graphischen Da­ten. Vor al­lem aber zeigt er die Ein­flüsse auf, die sich in Ra­vels Werk nieder­ge­schla­gen ha­ben. Gabriel Fauré, des­sen Schü­ler er war, Emmanuel Cha­brier, Erik Sa­tie, Masse­net, rus­si­sche Kom­po­nis­ten wie Mus­sorgsky, Borodin und Rims­ky-Korsakov. Später dann Francois Couperin (der ihn zu sei­ner Kom­po­si­tion "Le Tombeau de Couperin" in­spi­rier­te), Liszt, aber auch der Jazz, Strawinsky und die Po­ly­to­na­li­tät. Malerei und Li­te­ra­tur (Mallarmé, Baudelaire etc.), das Rus­si­sche Ballett füh­ren zu immer neu­en kom­po­si­to­ri­schen Versuchen, ei­ne Ent­wicklung, die erst durch seine Krankheit endet. Nicht zuletzt spielt die ge­gen­sei­ti­ge Be­ein­flus­sung mit dem äl­te­ren Claude De­bus­sy eine wich­ti­ge Rol­le in sei­nem Werk.

Die erste Schaffensepoche reicht von 1875 bis 1905. In ihr ent­ste­hen drei Klavier­wer­ke, Vo­kal­wer­ke (he­raus­ra­gend: Sche­he­ra­za­de) und das Streich­quar­tett in F-Dur. Jan­kélévitch analysiert sie im De­tail unter Heranziehung ei­ni­ger Noten­bei­spie­le.

Die zweite Epoche umfasst die Jah­re 1905 bis 1918 und be­in­hal­tet unter anderem sechs­und­zwan­zig Gesänge und ei­ni­ge Klavier­werke, die zu seinen bes­ten gehören. Exotisches und folk­lo­ris­ti­sche Einflüsse neh­men zu, die Bal­lettstücke "Daph­nis et Chloé" und "Ma mère l'oye" ent­ste­hen sowie zwei Opern (La cloche en­glou­tie und L'heure espagnole). Da­ne­ben zahl­rei­che Or­ches­ter­wer­ke und Ar­ran­gements [1].

Die dritte Epoche von 1918 bis 1937 zeigt keine ge­rad­li­ni­ge Ent­wick­lung, neben här­te­ren und ag­gres­si­ve­ren Kom­po­si­tio­nen entsteht Ge­fäl­li­ges. Jan­ké­lévitch konstatiert eine Rück­kehr zu jener Ein­fach­heit, "die der späte Bergson lehrte" [2]. Die Stücke werden teil­wei­se anhand mehrere Tak­te um­fas­sen­den No­ten­bei­spie­len aus­führ­lich vor­ge­stellt. Das "Kon­zert für die linke Hand", das Ravel für Paul Wittgenstein kom­po­nier­te, der sei­nen rech­ten Arm im Ersten Welt­krieg verloren hat­te, ent­stand in dieser Zeit.

Es folgt ein umfangreicher zwei­ter Teil, in dem ver­schie­de­ne kompositorische Ele­men­te wie Rhyth­mik, Har­mo­nik, Ton­arten, Kontra­punkt usw un­ter­sucht werden. Zahl­rei­che Ana­ly­sen und No­ten­bei­spie­le ver­tie­fen das Ver­ständ­nis man­cher be­reits vorher auf­ge­führ­ter Kom­po­si­tio­nen. Ravel ex­pe­ri­men­tiert mit aus­ge­fal­le­nen In­stru­men­ten wie dem "Aeo­li­phone" (?) in "Daphnis et Chloé" oder der Wind­ma­schi­ne in "Don Qui­chotte" [3]. Die Har­mo­nik wird sub­ti­ler, aben­teuer­licher [4].

Im dritten, "Appassionato" be­ti­tel­ten Teil, geht es vor allem um die verschiedenen Aus­drucks­for­men, die Ravel ein­setz­te. Er variiert eigene und frem­de Sequenzen (Jan­ké­lé­vitch bezeichnet sie als "Fäl­schun­gen"), um tiefer ge­le­ge­ne Struk­tu­ren zu mas­kie­ren. Der Tanz spielt eine be­son­de­re Rol­le in seinem Werk, und "auch dort, wo die Mu­sik nicht den gleich­för­mi­gen Rhythmus ei­nes Tan­zes annimmt, neigt sie dazu, sich in cho­reo­gra­phi­scher Form zu ent­wickeln" (S. 114). Ein großer Teil die­ses Kapitels befasst sich mit den ge­gen­sei­ti­gen Be­ein­flus­sun­gen und Un­ter­schie­den zu Debussy.

Ein Facit: "Die Musik Ra­vels drückt etwas aus, aber nur des­halb, weil sie es nicht ge­wollt hat. Ra­vel ist gerade des­halb tief, weil er ober­fläch­lich ist: das ist die durch­sich­tige Tiefe, diejenige, die ganz in der Genauigkeit beruht.." S. 133

Es folgen eine umfangreiche Zeit­ta­fel, mehrere Seiten mit Selbst­zeug­nissen Ravels so­wie Be­mer­kun­gen anderer Künst­ler zu seinem Werk. Ab­schließend ein dreiseitiges Werk­ver­zeich­nis sowie biblio­gra­phi­sche An­ga­ben.

Vladimir Jankélévitch war Phi­lo­soph und Musik­wissen­schaft­ler. Er lebte in Frank­reich nach­dem seine Familie aus Odes­sa emigriert war.

Noch bis in die 90er Jahre des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts wur­de das Buch bei Ro­wohlt auf­ge­legt, in­zwi­schen ist es nur noch an­ti­qua­risch er­hält­lich.

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1. Zum Beispiel Debussy, Satie, Mussorgsky, Chopin, Rimsky-Kor­sakov u.a.

2. "Und dennoch muß man fest­stellen, daß alle seine Werke nach 1918, inbegriffen das so klare, durch­sich­tige, luftige "Kla­vier­kon­zert in G-Dur", in ihrer Art nur die Rückkehr zu jener Ein­fach­heit zei­gen, die der spä­te Berg­son lehr­te." S. 49

3. "Wie Stravinsky so wird auch er von jeder Art ungewöhnlicher oder aus­gefallener Instrumente an­ge­zo­gen: dem "Aeoliphone" in 'Daph­nis', einem würdigen Ge­gen­stück zur "Wind­maschine" in 'Don Quichotte', der "Jazzo-Flö­te", die hinter den Ku­lis­sen den Ge­sang der Nach­ti­gall nachahmt, dem Luthéal der 'Tzigane', nicht zu vergessen all die Lärm­in­stru­men­te in 'L'Enfant et les Sorti­lèges', die Klap­per, die Peitsche, das Xylo­phon; auch die Käse­raspel fehlt nicht und auch nicht die Lotterie­trommel und der Re­vol­ver." S. 81f

4. "Die Harmonik Ravels ist voll­kommen bestimmt durch eine un­er­sätt­liche Neugier, die ihn zu den entlegensten Kombinationen und zu immer subtileren Ge­bil­den führt." S. 88

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4. Dezember 2020

Jean Echenoz: Ravel

Musik

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