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John Keegan: Das Antlitz des Krieges John Keegan
Das Antlitz des Krie­ges
Die Schlachten von Azincourt 1415, Wa­ter­loo 1815 und an der Somme 1916
Campus Verlag 1991, 422 Sei­ten
ISBN 3-593-34513-7

Keegan (1934 – 2012) war Mi­li­tär­his­to­ri­ker und Jour­na­list und hat­te für 25 Jahre einen Lehr­stuhl an der Royal Mi­li­ta­ry Aca­demy Sand­hurst, lehrte aber auch an anderen Uni­ver­si­tä­ten in England und den USA. Sein An­lie­gen in diesem Buch ist es, die drei Schlach­ten aus der Sicht ihrer Teil­neh­mer, be­son­ders aus der Sicht der ein­fa­chen Sol­da­ten dar­zu­stel­len. Zu Azincourt muss­te er dafür im We­sent­lichen die of­fi­ziel­len Ver­laut­ba­run­gen inter­pre­tie­ren, zu Wa­ter­loo und Somme liegen jede Menge Berichte von Teil­nehmern vor, die das Ge­sche­hen unmittelbar er­leb­ten.

Ausgewählt wurden diese drei Schlach­ten, weil in Ihnen die Verän­derung des Schlacht­ge­sche­hens durch die Ent­wick­lung der diversen Waf­fen­gat­tungen do­ku­men­tiert ist und weil eine aus­rei­chend große Zahl authen­tischer Do­ku­men­te zu ih­rer Darstellung vor­han­den ist [1]. Geschildert wird jeweils ein Tag, die Schlach­ten bei Azincourt und Waterloo dauer­ten auch nicht länger, die Schlacht an der Somme zog sich über meh­re­re Mo­na­te hin, beschrieben wird nur der erste Tag.

Keegan beginnt mit einer kri­ti­schen Be­trach­tung der Mi­li­tär­ge­schichts­schrei­bung von der An­ti­ke bis zur Ge­gen­wart. Exem­pla­risch ana­ly­siert er die ge­gen­sätz­li­chen Schlach­ten­be­rich­te von Cae­sar und Thu­ky­di­des, der ei­ne dem He­ro­is­mus so­wie stra­te­gi­schen und tak­ti­schen Ge­nie­strei­chen ver­pflich­tet, der an­de­re eher die Be­din­gun­gen und Kon­se­quen­zen des Krie­ges für die da­ran Be­tei­lig­ten her­vor­he­bend.

Azincourt: Nach einer kurzen his­to­ri­schen Ein­füh­rung zu den Um­ständen, die zu der Schlacht am 23. Oktober 1415 führ­ten, beschreibt Kee­gan die Trup­pen­stärke der Briten und Franzosen so­wie deren je­wei­li­ge Waf­fen­gat­tun­gen. Es folgt ei­ne Ein­schät­zung der geo­gra­phi­schen Ver­hält­nis­se, unter denen die bei­den Heere ge­gen­ei­nan­der an­tra­ten. Er teilt das Geschehen vor, wäh­rend und nach der Schlacht in Ab­schnitte ein, die er detailliert beschreibt. Die Soldaten sind aus­ge­hun­gert, erschöpft und nicht selten betrunken. Da sie über viele Stunden in Er­war­tung des Kampf­be­ginns in Reih und Glied stehen, müs­sen sie ih­re Not­durft an Ort und Stel­le ver­rich­ten, der Bo­den ist vom lan­gen Regen aufgeweicht. Schon kurz nach Beginn der Schlacht ist das Ge­län­de über­sät von toten und ver­letzten Men­schen und Pfer­den, was sowohl die Vor­wärts­be­we­gung als auch den Rückzug stark behindert. Im Kampf Mann ge­gen Mann ist die Dichte der Kämp­fen­den von ent­schei­den­der Be­deu­tung für die Mög­lich­keit, die Schlag- und Stich­waf­fen op­ti­mal ein­zu­set­zen und sich nicht ge­gen­sei­tig zu be­hin­dern und zu ver­let­zen. Flie­hende werden von der ei­ge­nen Ka­val­le­rie nie­der­ge­macht oder zum er­neu­ten An­griff ge­zwun­gen, Vor­wärts- und Rück­wärts­be­we­gen­de be­hin­dern sich ge­gen­sei­tig usw.

Gefangene werden gemacht, um später für sie Lö­se­geld zu er­zie­len [2], je höher der Rang ei­nes Ge­fan­ge­nen, um­so we­ni­ger unangenehm sind die Be­din­gungen sei­ner Ge­fan­gen­schaft, die reichs­ten un­ter ih­nen dinieren am Abend mit dem König. Die­je­ni­gen, die sich als wert­los er­wei­sen, wer­den nicht sel­ten ge­tö­tet. Nach der Schlacht fled­dern Sol­daten die Lei­chen ge­fal­le­ner Geg­ner.

Waterloo: Auch hier wieder die historischen Hin­ter­grün­de, die der Schlacht am 18. Juni 1815 vor­aus gegangen sind, die Auf­zäh­lung der Trup­pen­stär­ken und ihrer Zusammen­setzung. Im Un­ter­schied zu Azincourt werden in Waterloo auch Dis­tanz­waf­fen wie Ka­no­nen und Musketen ein­ge­setzt, was im Verlauf des Ge­schehens dazu füh­ren sollte, dass an manchen Stellen die Sicht der­art be­hin­dert war, dass Einheiten orien­tie­rungs­los durch den Nebel irrten. Die auf eng­li­scher Seite kämp­fen­den Truppen be­stan­den nicht mal zur Hälfte aus Engländern, die Mehr­heit bil­de­ten belgische, deut­sche und hol­län­di­sche Ein­hei­ten. Das Chaos wäh­rend der Schlacht muss un­be­schreib­lich ge­we­sen sein: Das Kra­chen der Ka­no­nen, die Salven der Ge­weh­re, Ex­plo­sio­nen, die Schreie der Ver­wun­de­ten, ei­ni­ge der bri­ti­schen Einheiten hatten ihre ei­ge­nen Mu­sik­zü­ge, die wäh­rend des Kampfes an­feu­ern­de Me­lo­dien und Lie­der in­to­nier­ten [3]. Auch hier spiel­te wieder (wie wohl in je­dem Krieg) Al­ko­hol eine nicht unbe­deu­tende Rol­le, Sprach­ver­wir­rung und Kom­mu­ni­kations­schwie­rig­kei­ten las­sen man­chen tak­ti­schen Plan zu­nich­te wer­den, die Ver­lus­te durch "friendly fire" sind er­heb­lich. Da es keine Löse­geld­zah­lungen für Ge­fan­ge­ne mehr gibt, ge­winnt das Plün­dern für die Sol­da­ten noch größere Be­deu­tung [4]. Auch die eigenen Offiziere werden, so sie ver­letzt und wehrlos sind, zu Opfern sol­cher Plün­de­run­gen und wer­den, um später nicht gegen die Plün­derer aussagen zu können, getötet [5]. Am Ende des Tages meint man, die Apoka­lypse ha­be statt­ge­fun­den [6].

Somme: Der Erste Weltkrieg währ­te schon zwei Jah­re als das britische Ober­kom­man­do mit fran­zö­si­scher Unter­stüt­zung eine Großoffensive ge­gen die deut­schen Stel­lun­gen durch­füh­ren ließ [7]. Sie­ben Ta­ge und Näch­te bom­bar­dier­ten Ar­til­le­rie­ge­schüt­ze das deut­sche Schützen­graben­sys­tem, um es sturm­reif zu schießen. Zu­sätz­lich wur­den Minen unter die deutschen Stel­lun­gen ge­trie­ben, die am Morgen des 1. Juli 1916, dem Tag der ei­gent­lichen Offen­sive, zur Explosion ge­bracht wur­den. Dann er­ho­ben sich die eng­li­schen und fran­zö­sischen Soldaten aus ihren Grä­ben und liefen unter großen Verlusten in das geg­ne­ri­sche Maschinen­ge­wehr­feuer. Denn die Ver­nich­tung des deut­schen Ver­tei­di­gungs­sys­tems war kei­nes­wegs so er­folg­reich ge­we­sen, wie man vermutet hat­te. Es gelang nur ver­ein­zel­ten Gruppen die deut­schen Schützen­gräben zu er­obern und für kurze Zeit zu hal­ten. Der Plan, mit Unter­stützung der britischen Artillerie (Sperr­feu­er) bis zu einer be­stimm­ten Tiefe in die deut­schen Stel­lun­gen ein­zu­fallen, brach an den meis­ten Stellen des etwa 26 Kilometer breiten Front­ab­schnitts schon bald zu­sam­men. Die Al­li­ier­ten muss­ten sich unter schwe­rem Be­schuss, in­zwi­schen auch der deutschen Artil­lerie, zu­rück­zie­hen. Die Ver­sor­gung der Ver­letz­ten oder die Ber­gung der vie­len To­ten war prak­tisch nicht mög­lich [8].

Die Kommunikation mit dem Ober­kommando war proble­ma­tisch (und fand teilweise per Brief­tau­ben statt), sodass es nur zu un­zu­rei­chen­den Un­ter­stützungs­aktionen kam, die die Situa­tion der an vor­derster Li­nie kämp­fenden Sol­da­ten et­was ent­lastet hätte. Der An­griff wur­de – trotz al­lem – fort­ge­setzt, die Zahl der Opfer über­schritt das da­mals Vor­stell­bare.

Die Offensive zog sich noch bis zum 18. No­vem­ber hin und for­der­te auf Seiten der Al­li­ier­ten über 600.000 Opfer, ohne dass sie zu ent­schei­den­den Stel­lungs­vor­tei­len ge­führt hät­te [9].

Keegan lässt sich in einem ab­schließenden Ka­pi­tel über sei­ne Ver­mu­tun­gen aus, wie sich Schlach­ten in zu­künf­ti­gen Krie­gen abspielen könn­ten. Sein Fa­zit: Durch die im­mer größere Dis­tanz der Gegner zueinander und durch ent­spre­chen­de Aus­bil­dungs­pa­ra­me­ter verliert der ein­zel­ne Soldat zu­neh­mend das Gefühl, dass er Men­schen tötet, wenn er Befehle aus­führt. "Es ge­hört zu den ab­ge­feim­tes­ten Grau­sam­kei­ten der mo­der­nen Kriegs­führung, daß sie selbst dem fä­higs­ten und ei­gen­willigsten Soldaten das Ge­fühl seiner ei­ge­nen Nich­tig­keit ein­häm­mert und ihn da­zu ver­führt, das Le­ben ent­waffne­ter oder ent­nerv­ter Ge­gner als eben­so un­be­deu­tend zu be­han­deln." S. 385

Ich kann mich nicht erinnern, schon mal ein Buch mit der­ar­ti­gem Widerwillen und gleich­zei­ti­ger Faszination ge­le­sen zu haben. Der Horror des Krie­ges kann kaum an­schau­licher dar­ge­stellt wer­den. Deutsch­land ist der drittgrößte Waf­fen­ex­por­teur der Welt. Natürlich nur zum Bes­ten unserer Wirt­schaft und zur Auf­recht­er­hal­tung des Frie­dens in der Welt. :-(

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1. "Drei Schlachten – Azincourt, Wa­ter­loo und Somme – will ich im ein­zel­nen beschreiben, wobei mei­ne Wahl be­stimmt wurde durch die Ver­füg­bar­keit von Ma­te­rial und dem Zweck meiner Dar­le­gung, näm­lich so genau wie ir­gend mög­lich zu demonstrieren, was Krieg mit hand­ge­führ­ter, ein­ge­schos­siger und mehr­ge­schos­si­ger Waf­fe war (und ist) und wie und wa­rum die Män­ner, die diesen Waf­fen ent­gegen­treten mußten (und müs­sen), ihre Angst be­herrsch­ten, ihre Wunden still­ten bzw. in ihren Tod gingen." S. 88

2. "Wer nicht schnell genug lau­fen konn­te, um im Ge­hölz oder zwi­schen der Reiterei der noch im­mer in Be­reit­schaft stehenden Ab­tei­lung Unter­schlupf zu finden, wur­de von Kopfgeldhäschern ge­jagt und ge­stellt…" S. 124

3. "Gronow, Leeke und Standen er­in­nern sich an das Schla­gen des pas de charge …; und in den schot­ti­schen Karrees ertönte der Du­del­sack. Die 71er-Bläser spiel­ten immer wieder »Hey, Johnnie Cope«; und Blä­ser McCay von den 79ern trat unter fran­zö­sischem Feu­er aus dem Karree heraus und spiel­te »Cogadh na sinth«." S. 164

4. "Plündern scheint so sehr an der Ta­ges­ord­nung ge­we­sen und selbst während der Schlacht, in und vor der Feuerlinie so aus­giebig prak­ti­ziert worden zu sein …" S. 211

5. "Viele einfache Soldaten, …, schli­chen sich zum Plün­dern weg – mehrfach berichteten ver­wun­dete bri­ti­sche Offiziere, sie seien aus­ge­raubt worden, und viel­leicht gä­be es noch mehr solche Be­rich­te, wenn die Plünderer ihre Opfer nicht zum Teil getötet hätten; …" S. 229

6. "In einer etwa fünf Qua­drat­ki­lo­me­ter großen, offe­nen, was­ser­lo­sen, baumlosen und praktisch un­be­wohn­ten Land­schaft, wo am frühen Mor­gen noch wo­gen­des Korn ge­standen hat, lagen bei Ein­bruch der Nacht die Leiber von vier­zig­tau­send Men­schen und zehn­tau­send Pferden, von denen viele noch lebten und schlimmste Qualen litten." S. 231

7. "Die Briten sollten mit einem Dutzend Divisionen nörd­lich des Flusses, die Franzosen südlich mit zwan­zig Divisionen an­grei­fen." S. 252

8. "Insgesamt hatten die Briten Ver­lus­te von etwa 60.000 Mann zu be­kla­gen, von denen 21.000 zu­meist in den ersten Stunden des An­griffs und vielleicht sogar in den ers­ten Minuten starben." S. 304

9. "Als die Schlacht schließlich en­de­te, wa­ren 419.654 eng­li­sche Sol­da­ten an der Somme gefallen oder ver­wun­det worden und fast 200.000 Franzosen." S. 333

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8. November 2020

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