Kassiber leer
Autoren Glossen Lyrik

Michal Ksiazek Straße 816 Michal Ksiazek
Straße 816.
Eine Wanderung in Polen.
Aus dem Polnischen von Renate Schmid­gall.
S. Fischer Verlag 2018, 272 Sei­ten
ISBN 978-3-10-397329-7

Der Bug und die Stra­ße 816 mar­kie­ren über wei­te Stre­cken die öst­li­che Gren­ze Po­lens zu sei­nen Nach­barn Ukra­i­ne und Be­la­rus. Ein Ge­biet, das über die Jahr­hun­der­te durch die Ein­flüs­se ver­schie­de­ner Spra­chen, Re­li­gio­nen und Völ­ker ge­prägt wor­den ist. Und durch die Ver­su­che, die­se Ein­flüs­se und ih­re sicht­ba­ren Hin­ter­las­sen­schaf­ten zu ver­nich­ten. Durch Ver­trei­bun­gen, Zer­stö­run­gen, Mas­sa­ker.

Dieses Gebiet durchstreift Mi­chal Ksiazek, Or­ni­tho­lo­ge, Kul­tur­wis­sen­schaft­ler und Dich­ter, ent­lang der Straße 816 über meh­re­re hundert Ki­lo­me­ter auf der Suche nach Zeug­nissen der Ver­gan­gen­heit und ihren Re­lik­ten in der Ge­gen­wart. Er be­lauscht und be­ob­ach­tet, die Men­schen und die Tiere, die ihm auf dem Weg zum Bia­lo­wieza-Ur­wald, dem letzten Ur­wald Eu­ro­pas, be­geg­nen. Er un­ter­sucht die Flora und die Na­men der Orte auf ihre Her­kunft hin, beschreibt das Bio­top un­ter­halb der Parkbank, auf der er nächtigen muss, wenn er kei­ne an­de­re Bleibe ge­fun­den hat.

Er befragt die Menschen nach den Ruinen der or­tho­do­xen Kir­chen, den zerstörten Grab­ma­len, dem Verbleib der Be­woh­ner der verfal­lenden Häu­ser. Und erfährt da­bei nur wenig Kon­kre­tes, die Erinne­rungen blei­ben blass.

Entstanden ist dabei eine Art Zeit­raffer-Ta­ge­buch, das meist auf knappe Weise Ein­drücke wie­der­gibt, die sel­ten über ei­nen Mo­ment hi­n­aus­gehen. Wenn sie es doch tun, öffnet sich ei­ne Be­trach­tungs­wei­se, der man gerne wei­ter ge­folgt wä­re. So aber werden his­to­ri­sche Er­eig­nis­se an­ge­deu­tet, die den meis­ten Le­sern nichts oder nur wenig sa­gen. Tier- und Pflan­zen­ar­ten wer­den auf­ge­zählt, über die man gerne mehr er­fah­ren hät­te und sich statt dessen ir­ri­tiert fragt, wel­che Funktion sie in diesem Buch erfüllen.

Es gibt Ausnahmen, so zum Bei­spiel wenn Ksia­zek nach So­bi­bor kommt, wo die SS ein La­ger be­trie­ben hat, in dem in­ner­halb nur eines Jahres bis zu 250.000 eu­ro­päische, zu­meist polnische Ju­den er­mor­det wor­den sind. Oder wenn er schließ­lich Bialowieza [1] er­reicht, das Ziel sei­ner Wan­de­rung, und die ver­schie­de­nen Arten der dort lebenden Spech­te an­hand ihrer unter­schied­lichen Art zu klop­fen be­schreibt. Wann im­mer der Au­tor seine Be­trach­tun­gen um­fas­sen­der ge­stal­tet, ge­winnt der Text an inhaltlicher und sprach­licher Tiefe. Nicht sel­ten gilt (nicht nur bei Bü­chern): Weniger wäre mehr ge­we­sen. Hier nicht.

----------------------------

1. Der Jahrtausende alte Wald war beliebtes Jagd­ge­biet der Za­ren und während des 1. Welt­kriegs des deut­schen Kaisers und an­de­rer hoch­ge­stell­ter Per­sön­lich­kei­ten. Einzigartige Wild­be­stän­de wur­den da­mals stark de­zi­miert. 1919 galt der Wisent als in Eu­ro­pa aus­ge­stor­ben. Hermann Göring, der national­so­zia­lis­tische Reichs­jäger­meis­ter, förderte ein Projekt zur Rück­züch­tung des Auer­och­sen, den er im Bialowieza-Ur­wald an­sie­deln wollte, um ihn später jagen zu kön­nen. Dazu kam es nicht. Statt dessen wurden bei der "Säu­be­rung" des Waldes ca. 20.000 Menschen ver­trie­ben, Hun­der­te getötet und Dutzende Dörfer zer­stört und nie­der­ge­brannt. Der Wald liegt heu­te auf pol­ni­schem und bela­russischem Staats­gebiet.

----------------------------

12. August 2022

Reisen

Gelesen : Weiteres : Impressum