Kassiber | ![]() |
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Der Bug und die Straße 816 markieren über weite Strecken die östliche Grenze Polens zu seinen Nachbarn Ukraine und Belarus. Ein Gebiet, das über die Jahrhunderte durch die Einflüsse verschiedener Sprachen, Religionen und Völker geprägt worden ist. Und durch die Versuche, diese Einflüsse und ihre sichtbaren Hinterlassenschaften zu vernichten. Durch Vertreibungen, Zerstörungen, Massaker. Dieses Gebiet durchstreift Michal Ksiazek, Ornithologe, Kulturwissenschaftler und Dichter, entlang der Straße 816 über mehrere hundert Kilometer auf der Suche nach Zeugnissen der Vergangenheit und ihren Relikten in der Gegenwart. Er belauscht und beobachtet, die Menschen und die Tiere, die ihm auf dem Weg zum Bialowieza-Urwald, dem letzten Urwald Europas, begegnen. Er untersucht die Flora und die Namen der Orte auf ihre Herkunft hin, beschreibt das Biotop unterhalb der Parkbank, auf der er nächtigen muss, wenn er keine andere Bleibe gefunden hat. Er befragt die Menschen nach den Ruinen der orthodoxen Kirchen, den zerstörten Grabmalen, dem Verbleib der Bewohner der verfallenden Häuser. Und erfährt dabei nur wenig Konkretes, die Erinnerungen bleiben blass. Entstanden ist dabei eine Art Zeitraffer-Tagebuch, das meist auf knappe Weise Eindrücke wiedergibt, die selten über einen Moment hinausgehen. Wenn sie es doch tun, öffnet sich eine Betrachtungsweise, der man gerne weiter gefolgt wäre. So aber werden historische Ereignisse angedeutet, die den meisten Lesern nichts oder nur wenig sagen. Tier- und Pflanzenarten werden aufgezählt, über die man gerne mehr erfahren hätte und sich statt dessen irritiert fragt, welche Funktion sie in diesem Buch erfüllen. Es gibt Ausnahmen, so zum Beispiel wenn Ksiazek nach Sobibor kommt, wo die SS ein Lager betrieben hat, in dem innerhalb nur eines Jahres bis zu 250.000 europäische, zumeist polnische Juden ermordet worden sind. Oder wenn er schließlich Bialowieza [1] erreicht, das Ziel seiner Wanderung, und die verschiedenen Arten der dort lebenden Spechte anhand ihrer unterschiedlichen Art zu klopfen beschreibt. Wann immer der Autor seine Betrachtungen umfassender gestaltet, gewinnt der Text an inhaltlicher und sprachlicher Tiefe. Nicht selten gilt (nicht nur bei Büchern): Weniger wäre mehr gewesen. Hier nicht. ---------------------------- 1. Der Jahrtausende alte Wald war beliebtes Jagdgebiet der Zaren und während des 1. Weltkriegs des deutschen Kaisers und anderer hochgestellter Persönlichkeiten. Einzigartige Wildbestände wurden damals stark dezimiert. 1919 galt der Wisent als in Europa ausgestorben. Hermann Göring, der nationalsozialistische Reichsjägermeister, förderte ein Projekt zur Rückzüchtung des Auerochsen, den er im Bialowieza-Urwald ansiedeln wollte, um ihn später jagen zu können. Dazu kam es nicht. Statt dessen wurden bei der "Säuberung" des Waldes ca. 20.000 Menschen vertrieben, Hunderte getötet und Dutzende Dörfer zerstört und niedergebrannt. Der Wald liegt heute auf polnischem und belarussischem Staatsgebiet. ---------------------------- 12. August 2022 → Reisen |
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