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Theodor Lessing Der Kulturphilosoph Theodor Lessing hat sich in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg immer wieder mit der juristischen Aufarbeitung von Kriminalfällen beschäftigt, die ihm exemplarisch für den Zustand einer Gesellschaft erschienen, die ihre moralischen Bezugspunkte verloren hat. Neben der Einleitung des Herausgebers Rainer Marwedel sind hier 14 Gerichtsreportagen und Essays veröffentlicht, die in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als selbständige Publikation oder in Zeitschriften erschienen sind. Im Zentrum steht das Verfahren gegen Fritz Haarmann [1], dem vorgeworfen wurde, in Hannover fast 30 junge Männer getötet, ihre Leichen zerstückelt und in den nahe gelegenen Fluss geworfen zu haben. Haarmann war mehrfach vorbestraft, hatte wegen verschiedener Delikte einige Jahre im Zuchthaus verbracht und betätigte sich seit dem Ende des Krieges als Spitzel der Polizei. Sein Milieu war die Szene der Kleinkriminellen um den Hauptbahnhof herum. Dort knüpfte er Kontakte zu männlichen Jugendlichen, die nicht selten von zuhause entlaufen waren, bot ihnen Unterkunft und beteiligte sie an seinen Geschäften. Mindestens 24 von ihnen tötete Haarmann während sexueller Handlungen durch einen Biss in die Kehle. Mit angeklagt war sein Freund Hans Grans [2], dem man eine Mittäterschaft anlastete, für die er später zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt werden sollte. Inwieweit er tatsächlich an den Morden beteiligt gewesen ist, blieb allerdings unklar [3]. Haarmann gab sich gerne als "Kriminaler" aus, konnte sogar einen entsprechenden Ausweis vorzeigen, und gewann damit das Vertrauen seiner späteren Opfer bzw. setzte sie unter Druck, um sie sich gefügig zu machen. Er wurde am 15. April 1925 durch Enthaupten mit dem Fallbeil hingerichtet. [4] Lessing formuliert schwere Versäumnisse bei der Ermittlungsarbeit der Polizei, kritisiert die Inkompetenz der psychologischen Gutachter und hält das gesamte Verfahren für verfehlt. Eine Gesellschaft, die in den Kriegsjahren jede Form der Verrohung gefördert hat, die danach den Entwurzelten keinen Halt und keine Perspektive bieten konnte, hat kein Recht den Einzelnen schuldig zu sprechen, denn die Schuld für das, was unter solchen Umständen geschehen ist, liegt auf allen, die für diese Umstände verantwortlich sind. In Zeiten zusammengebrochener ethischer Grenzen fallen einzelne in atavistische Exzesse mythologischer Archetypen (Werwolf, Vampir usw.) [5]. Weitere Reportagen widmen sich den Fällen Wilhelm Hagedorn, Paul Krantz, Philipp Halsmann [6], Wilhelmine Flessa u.a. ---------------------------- 1. 1879 – 1925. 2. 1901 – 1975. 3. Grans wurde 1937 ins Konzentrationslager Sachsenhausen verlegt, wo er bis zur Befreiung des KZs 1945 inhaftiert war, obwohl seine 12jährige Strafe bereits 1938 abgegolten war. 4. Der Kopf gelangte zunächst ins Kraepelinsche Hirnforschungsinstitut in München, wo er eingehend untersucht wurde. Anschließend wurde er als Präparat im Institut für Rechtsmedizin in Göttingen aufbewahrt. 2014 wurde er eingeäschert und anonym bestattet. 5. "Dort, wo das Traum- und Bild-Erleben der Menschen völlig vernüchtert, völlig ausgeödet wird, da hilft sich die Natur durch Rückschläge auf die ältesten Triebschichten, und das sind jene, von denen wir Bildungsmenschen nur noch wissen als von den Blutopfern der Vorzeit, von Mänaden, Korybanten und heidnischen Mythen und ihrer innigen Verbindung zwischen Verschlingungstrieb und Wollust." S. 231 6. siehe auch: Martin Pollack: Anklage Vatermord: Der Fall Philipp Halsmann. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2002. ---------------------------- 18. Januar 2023 |
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