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Theodor Lessing Haarmann Die Geschichte eines Werwolfs und andere Gerichtsreportagen Theodor Lessing
Haarmann.
Die Geschichte eines Wer­wolfs und andere Ge­richts­re­por­ta­gen.
Herausgegeben von Rainer Mar­we­del.
Sammlung Luch­ter­hand 1989, 314 Sei­ten
ISBN 3-630-61865-0

Der Kulturphilosoph Theo­dor Les­sing hat sich in den Jah­ren nach dem 1. Weltkrieg im­mer wieder mit der ju­ris­ti­schen Auf­ar­bei­tung von Kri­mi­nal­fäl­len be­schäf­tigt, die ihm exem­plarisch für den Zu­stand ei­ner Ge­sell­schaft er­schie­nen, die ih­re mo­ra­li­schen Be­zugs­punk­te verloren hat.

Neben der Einleitung des Her­ausgebers Rainer Mar­we­del sind hier 14 Ge­richts­re­por­ta­gen und Essays ver­öf­fent­licht, die in den 20er Jah­ren des vergangenen Jahr­hun­derts als selbständige Pu­bli­kation oder in Zeit­schrif­ten erschienen sind.

Im Zentrum steht das Ver­fah­ren gegen Fritz Haar­mann [1], dem vorgeworfen wurde, in Han­no­ver fast 30 junge Män­ner getötet, ihre Leichen zer­stü­ckelt und in den nahe ge­le­ge­nen Fluss geworfen zu ha­ben. Haarmann war mehr­fach vor­be­straft, hatte wegen ver­schie­de­ner Delikte einige Jah­re im Zuchthaus verbracht und betätigte sich seit dem Ende des Krieges als Spitzel der Polizei. Sein Milieu war die Szene der Klein­kri­mi­nel­len um den Hauptbahnhof he­rum. Dort knüpfte er Kontakte zu männ­li­chen Jugendlichen, die nicht selten von zuhause entlaufen waren, bot ihnen Unterkunft und beteiligte sie an seinen Geschäften. Min­des­tens 24 von ihnen tötete Haarmann während sexueller Handlungen durch einen Biss in die Kehle.

Mit angeklagt war sein Freund Hans Grans [2], dem man eine Mit­täterschaft anlastete, für die er später zu 12 Jahren Zucht­haus verurteilt werden sollte. Inwieweit er tatsächlich an den Morden beteiligt ge­we­sen ist, blieb allerdings unklar [3].

Haarmann gab sich gerne als "Kriminaler" aus, konnte so­gar einen entsprechenden Aus­weis vorzeigen, und ge­wann damit das Vertrauen seiner späteren Opfer bzw. setzte sie unter Druck, um sie sich gefügig zu machen. Er wurde am 15. April 1925 durch Enthaupten mit dem Fallbeil hin­ge­richtet. [4]

Lessing formuliert schwere Ver­säum­nis­se bei der Er­mitt­lungs­arbeit der Polizei, kri­ti­siert die In­kom­petenz der psy­cho­lo­gi­schen Gutachter und hält das gesamte Verfahren für ver­fehlt. Eine Ge­sell­schaft, die in den Kriegsjahren jede Form der Ver­rohung gefördert hat, die danach den Ent­wur­zel­ten kei­nen Halt und keine Per­spek­ti­ve bieten konnte, hat kein Recht den Einzelnen schuldig zu sprechen, denn die Schuld für das, was unter solchen Umständen ge­sche­hen ist, liegt auf allen, die für diese Umstände ver­ant­wort­lich sind. In Zeiten zu­sam­men­ge­bro­che­ner ethischer Gren­zen fallen einzelne in atavistische Ex­zes­se my­tho­lo­gischer Archetypen (Werwolf, Vampir usw.) [5].

Weitere Reportagen widmen sich den Fällen Wil­helm Ha­ge­dorn, Paul Krantz, Philipp Hals­mann [6], Wilhelmine Flessa u.a.

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1. 1879 – 1925.

2. 1901 – 1975.

3. Grans wurde 1937 ins Kon­zen­trationslager Sach­sen­hausen ver­legt, wo er bis zur Befreiung des KZs 1945 in­haf­tiert war, obwohl sei­ne 12jährige Strafe bereits 1938 abgegolten war.

4. Der Kopf gelangte zunächst ins Kraepelinsche Hirn­for­schungs­in­sti­tut in München, wo er ein­ge­hend untersucht wurde. An­schlie­ßend wurde er als Präparat im In­sti­tut für Rechts­medizin in Göt­tin­gen aufbewahrt. 2014 wurde er eingeäschert und anonym be­stat­tet.

5. "Dort, wo das Traum- und Bild-Er­le­ben der Menschen völlig ver­nüch­tert, völlig ausgeödet wird, da hilft sich die Natur durch Rück­schlä­ge auf die ältesten Trieb­schich­ten, und das sind jene, von de­nen wir Bil­dungs­men­schen nur noch wissen als von den Blut­op­fern der Vorzeit, von Mänaden, Kory­banten und heidnischen My­then und ihrer innigen Verbindung zwischen Ver­schlin­gungs­trieb und Wollust." S. 231

6. siehe auch: Martin Pollack: An­kla­ge Vatermord: Der Fall Philipp Halsmann. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2002.

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18. Januar 2023

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