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Claudio Magris Gekrümmte Zeit in Krems Claudio Magris
Gekrümmte Zeit in Krems. Er­zäh­lun­gen.
Aus dem Italienischen von Anna Leube.
Carl Hanser Verlag 2022, 94 Sei­ten
ISBN 978-3-446-27277-4

Die Erzählungen "Ge­krümm­te Zeit in Krems" von Claudio Ma­gris be­han­deln zen­tra­le The­men des Äl­ter­wer­dens und der Reflektion über das ei­ge­ne Le­ben im Kon­text von per­sön­li­cher und kol­lek­ti­ver Ge­schich­te. Der Titel die­ser Er­zäh­lungs­samm­lung spielt auf die Re­la­ti­vi­täts­theo­rie Ein­steins an und die Un­trenn­bar­keit von Raum und Zeit.

Magris, ein in Triest ge­bo­re­ner Schriftsteller und Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler, nutzt die Raum­zeit­krüm­mung als Me­ta­pher für die Per­spek­ti­ve auf das Le­ben im Alter. Diese Idee, dass Zeit nicht linear ist und Ver­gan­gen­heit, Ge­gen­wart und Zu­kunft mög­li­cher­wei­se gleich­zei­tig existieren kön­nen, er­weckt die Hoff­nung, dass Menschen nicht strikt an ei­ne li­nea­re Zeit­ach­se gebunden sind. Dies wird be­son­ders re­le­vant, wenn das En­de des Le­bens nä­her rückt.

Die Protagonisten der fünf Ge­schich­ten sind äl­te­re Män­ner, meist Ita­lie­ner, die durch die Er­eig­nis­se des frühen 20. Jahr­hun­derts ge­prägt wur­den: Krie­ge, Ras­sen­ver­fol­gung und Mi­gra­tion. Vier von ih­nen le­ben in Triest, der fünf­te in Pie­mont. Die­se Män­ner ha­ben in ihrer Ju­gend die Habs­bur­ger­zeit er­lebt und er­kun­den nun den "würdigen Rück­zug" aus dem Le­ben.

Jede Erzählung bietet Mo­ment­auf­nah­men, die den Pro­ta­go­nis­ten Ge­le­gen­hei­ten zur Re­tro­spek­ti­ve ge­ben und zei­gen, was sie er­reicht oder ver­säumt ha­ben. Ein Beispiel ist ein rei­cher In­dus­tri­el­ler, der nach dem Verkauf sei­ner Fir­men als Por­tier ar­bei­tet und da­durch ei­ne neue Frei­heit fin­det. Ein an­de­rer Pro­ta­go­nist, ein jü­di­scher Schrift­stel­ler, lebt in einer ärm­li­chen Pen­sion in Pie­mont und wird bei Li­te­ra­tur­preis-Events ge­ehrt, während ein Mu­sik­leh­rer, der als Sohn pol­ni­scher Ju­den nach Triest kam, schmerz­haf­te Er­in­ne­run­gen durch die Wie­der­be­geg­nung mit ei­nem ehe­ma­li­gen Schü­ler er­lebt. Wei­te­re Fi­gu­ren sind ein Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und ein Kaf­ka-Ex­per­te, die bei­de mit ih­rer Ver­gan­gen­heit kon­fron­tiert wer­den.

Magris' Geschichten kom­bi­nie­ren per­sön­li­che und kol­lek­ti­ve Ge­schich­te und sind ge­prägt von Weh­mut und Me­lan­cho­lie. Die Pro­ta­go­nis­ten mi­schen Mo­men­te des Alltags mit der All­ge­gen­wart his­to­ri­scher Er­eig­nis­se, wo­bei Triest, die Ha­fen­stadt der ehe­ma­li­gen Habs­bur­ger Mo­nar­chie, als leuch­ten­der Brenn­punkt dient. Das Meer taucht in den Er­zäh­lun­gen als Sym­bol für An­kunft, Be­dro­hung und Re­fle­xion der Seele auf, und zeigt die ele­men­ta­re Kraft einer uto­pi­schen Poe­sie, die in der Habs­bur­ger­zeit ver­wur­zelt ist.


23. Juli 2024

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