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Nastassja Martin Nastassja Martin (*1986) ist Anthropologin und Autorin, ihr Forschungsgebiet ist der Animismus, den sie zuerst bei den Gwich'in in Alaska studierte. Später wird sie bei den Ewenen auf der Halbinsel Kamtschatka leben, einem halbnomadischen Volk, das durch Jagd und Rentierzucht sein Überleben sichert. Auch hier findet sie ausgeprägte animistische Vorstellungen, die sich trotz des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels, von dem auch die Lebensweise der Ewenen nicht unberührt geblieben ist, bewahrt haben. Nach einiger Zeit des Aufenthalts bei den Ewenen stellen sich wiederkehrende Träume ein, die Bären zum Inhalt haben, die Indigenen nennen Nastassja "matucha" (=Bärin). Bei einer Erkundung weit außerhalb der Siedlung, in der sie lebt, kommt es unerwartet zu einer Begegnung mit einem Bären, der sie anfällt, ihr in den Kopf und ins Bein beißt. Sie kann ihn mit ihrem Eispickel verletzen und vertreiben. Ein Teil des Kiefers muss ersetzt werden, die Wunden sind schwer, das Krankenhaus, in dem sie behandelt wird, wirkt weit von westlichen Standards entfernt. Als sie, einigermaßen kuriert, nach Paris verlegt wird, eröffnet ihr die zuständige Ärztin, dass das Implantat ersetzt werden muss. Es erfolgt eine erneute Operation, bei der Krankenhauskeime übertragen werden, wie man später in einem Schweizer Hospital feststellen wird. Zwei Jahre nach dem Ereignis in Kamtschatka kehrt Nastassja zurück zu den Ewenen, und erst hier beginnt der eigentliche Heilungsprozess, der ihre Gedanken und Fragen, die sie in den langen Wochen der Isolation in den Krankenhäusern beschäftigt haben, auf ein neues Niveau hebt. Sie ist eine "miedka" geworden, halb Mensch, halb Bär, ein Wesen, das zwischen den Welten lebt. Aber ebenso ist die westliche Medizin in sie eingedrungen, ist sie Teil eines Systems geworden, das sich vor allem über seine technischen Möglichkeiten definiert. Nastassja Martin reflektiert ihre Erfahrungen, sowohl in der Medizin als auch in der Anthropologie, und setzt sich mit der westlichen Trennung von Mensch und Natur auseinander. Für die Ewenen, bei denen die Grenzen zwischen Mensch, Tier und Natur fließend sind, ist die Begegnung mit dem Bären ein Teil einer vorbestimmten, spirituellen Ordnung. Sie beginnt zu begreifen, dass der Bär nicht nur ein Tier war, sondern auch eine Spiegelung ihrer eigenen inneren Reise und ihrer Suche nach einer tieferen Verbindung zur Natur. Dem Aufeinandertreffen, der Begegnung, die sie gelegentlich als Umarmung oder sogar als Kuss bezeichnet, lag etwas Vorherbestimmtes, etwas Schicksalhaftes zugrunde. Bär und Mensch haben einander gesucht und sind jeweils Teil des anderen geworden. Das Buch ist eine Mischung aus persönlichen Erlebnissen und anthropologischer Reflexion, die eine eigene Perspektive auf den Animismus und das Verhältnis zwischen Mensch und Natur bietet. Nastassja Martin stellt sich der Frage, was es bedeutet, Teil einer solchen Welt zu sein, in der Tiere und Menschen als gleichwertige, fühlende Wesen angesehen werden. 29. November 2024 |
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