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Harry Mulisch Das Attentat Harry Mulisch
Das Attentat. Roman.
Aus dem Nie­der­län­di­schen von Annelen Ha­bers.
Carl Hanser Verlag 1986, 243 Sei­ten
ISBN 3-446-14113-8

Im Januar 1945 wird am Stadt­rand von Haar­lem ein Po­li­zist er­schos­sen. Ein stadt­be­kann­ter Kol­la­bo­ra­teur, der auf sei­nem Fahr­rad un­ter­wegs ist. Der zwölf­jäh­ri­ge An­ton Steen­wijk hört mit sei­nem 17 jäh­ri­gen Bru­der Pe­ter und sei­nen El­tern die Schüsse und eilt ans Fenster. Sie be­ob­ach­ten ihre Nach­barn, die ge­ra­de dabei sind, die Leiche vor ihr, Steen­wijks, Haus zu tra­gen und dort liegen zu las­sen. Der auf­ge­brach­te Bruder läuft zu der Lei­che, um sie an den Ort der Tat zu­rück zu zie­hen, doch schon hört man Si­re­nen von al­len Sei­ten, er ge­rät in Pa­nik, greift sich die Waf­fe des ge­tö­te­ten Po­li­zei­ober­inspektors Fake Ploeg und rennt davon. Se­kun­den spä­ter treffen die Deutschen ein, Sol­da­ten und Feld­jä­ger, es fal­len weitere Schüsse. An­ton und seine Eltern wer­den ab­ge­führt und ge­trennt, ihr Haus wird mit Hand­gra­na­ten und ei­nem Flam­men­wer­fer in Brand gesetzt und zer­stört.

Anton wird zu einer jun­gen Frau in eine licht­lo­se Zelle ge­sperrt, sie trös­tet ihn. Am nächs­ten Tag wird er zu On­kel und Tante gebracht, wo er die nächsten Jahre le­ben wird, sei­ne Eltern sind mit an­de­ren Ge­fan­ge­nen aus Rache für das Atten­tat erschossen wor­den.

Anton studiert Medizin und wird Anästhesist, er wird zwei­mal hei­ra­ten und Vater zweier Kin­der sein, sein Leben ver­läuft in ge­ord­ne­ten Bah­nen, die Ver­gan­gen­heit ist ab­ge­hakt. Aber sie dringt in Ab­stän­den von ei­ni­gen Jahren im­mer wie­der in sein Le­ben ein. Durch Be­geg­nun­gen mit Men­schen, die in das da­ma­li­ge Ge­sche­hen involviert wa­ren. Da ist der rechts­ra­di­ka­le Sohn des ge­tö­te­ten Po­li­zis­ten, der sich selbst als Opfer der Er­eig­nis­se sieht. Bei einer Be­er­di­gung trifft An­ton auf den At­ten­tä­ter selbst, der ihm die da­ma­li­ge Si­tua­tion zu er­klä­ren ver­sucht, mit dem er über die Kon­se­quen­zen spricht, die ein sol­cher An­schlag für Nicht­be­tei­lig­te ha­ben konn­te, Gedanken, die von den Wi­der­stands­kämp­fern bei ihren Ak­tio­nen eben­falls er­wo­gen worden waren und un­ter­schied­lich bewertet wur­den. Er erfährt, dass die jun­ge Frau, mit der An­ton in der dunklen Zel­le ein­ge­sperrt ge­we­sen ist, die Freundin des At­ten­tä­ters ge­we­sen ist und eben­falls auf den Polizisten ge­schos­sen hat. Sie wurde spä­ter hingerichtet. Schließ­lich begegnet er der Tochter, die mit ih­rem Va­ter ge­mein­sam die Leiche des Po­li­zis­ten vor das Haus der Steen­wijks ge­tra­gen hat­te und bittet sie um ei­ne Erklärung, warum sie die­ses Haus aus­ge­wählt hat­ten und nicht das auf der an­de­ren Stra­ßen­sei­te liegende.

Das Grundelement des Ro­mans ist die Wahr­neh­mung, die immer eine Frage der Per­spek­ti­ve ist. Wer lädt Schuld auf sich, wie weit geht die Ver­ant­wor­tung für das eigene Han­deln und wie geht man mit den Konsequenzen um, die sich daraus er­ge­ben? An­ton selbst la­viert sich durch sei­ne Exis­tenz und wird doch im­mer wieder von der Ver­gan­gen­heit erreicht. Leit­mo­ti­visch durch­zieht Feu­er in sei­nen ver­schie­de­nen Er­schei­nungs­for­men (Flamme, Glut, Asche) den Ro­man, die Textstruktur ist streng kon­stru­iert und er­in­nert an eine grie­chi­sche Tra­gö­die. Span­nend zu lesen, li­te­ra­risch nicht sehr an­spruchs­voll. Schul­lek­tü­re fürch­te ich.

Harry Mulisch (1927 – 2010) war der Sohn ei­ner Jü­din und eines Va­ters, der beruflich für die "Ari­sie­rung" jüdischen Ei­gen­tums ver­ant­wort­lich war. Die­ser Konflikt be­stimmt gro­ße Teile sei­nes Werks.

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15. September 2023

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