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Nathaniel Philbrick: Im Herzen der See Nathaniel Philbrick
Im Herzen der See.
Die letzte Fahrt des Wal­fän­gers Essex.
Karl Blessing Verlag 2000, 352 Seiten, zahlreiche Ab­bil­dun­gen
ISBN 3-89667-093-X

Nantucket, eine Insel vor der Küs­te Neu­eng­lands, war zu Be­ginn des 19. Jahr­hunderts ei­ne Hoch­burg des kom­mer­ziel­len Wal­fangs. Gejagt wur­den vor al­lem Pott­wale, die ih­rer Größe we­gen den meis­ten Er­trag ver­spra­chen. Ver­wen­dung fand der Tran, das durch Aus­ko­chen der dicken Fett­schicht ge­won­ne­ne Öl, das vor allem als Lam­pen­öl in den Han­del kam, Walrat, das im Kopf des Wals ge­fun­den wur­de und das, hoch­wer­ti­ger als Tran, eben­falls zu Lampenöl und zu Ker­zen ver­ar­bei­tet wur­de, Am­bra, eine Sub­stanz aus dem Ver­dau­ungs­trakt, die bei der Her­stel­lung von Par­füm Ver­wen­dung fand. Zu der Zeit, als die Es­sex in See stach, waren die Ge­wäs­ser vor der Ostküste Nord­ame­ri­kas aller­dings schon weit­ge­hend leer­ge­jagt. Die neuen Jagd­gründe be­fan­den sich im Pa­zi­fik, für einen Wal­fän­ger aus Nantucket be­deu­te­te das, zwei bis drei Jah­re auf Fahrt zu sein.

Die Essex war ein schon äl­te­rer Wal­fän­ger, der demnächst durch ein größeres Schiff er­setzt wer­den soll­te. Mit drei Mas­ten und ca. 27 Metern Län­ge konnte sie einige hun­dert Fäs­ser Tran­öl fas­sen und hat­te in der Vergangenheit ih­re Eig­ner zu reichen Männern ge­macht. Der neue Kapitän, George Pol­lard jr., hatte auf frü­he­ren Fahrten der Essex als Obermaat ge­dient und kann­te das Schiff so gut wie nie­mand sonst. Am 12. Au­gust 1819 verließ das Schiff mit 21 Mann Besatzung den Ha­fen, drei Ta­ge später war es bereits ge­ken­tert. Auf dem Weg zu den Azoren, damals die übliche Route, um von dort mit güns­ti­gen Winden Rich­tung Kap Horn zu segeln, war die Es­sex in einen Sturm ge­ra­ten, und eine kräftige Böe hat­te das Schiff zum Kentern ge­bracht. Nach­dem man das Schiff wie­der aufrichten konn­te, wollte der Ka­pi­tän um­keh­ren, um die Schä­den im Hei­mat­ha­fen be­he­ben zu lassen, ließ sich je­doch von seinen bei­den Maaten umstimmen und setzte die Rei­se fort. Der Ver­lust der Walfangboote soll­te in den nächs­ten Häfen, in de­nen frische Lebensmittel an Bord ge­nom­men wür­den, kom­pen­siert wer­den.

Die Fahrt ging weiter über die Azo­ren und Kapverden Rich­tung Kap Horn. Die ersten Wa­le er­beu­te­te man kurz nach­dem man den Äquator über­quert hat­te. Sie wurden an Ort und Stel­le verarbeitet, die ersten Fäs­ser füllten sich mit Tran. Dann weiter. Man er­leb­te raue See, durchlitt nicht en­den wol­len­de Flauten und er­reich­te schließlich – nach ei­ner ge­fähr­li­chen Umrundung von Kap Horn – den Pazifik, wo man sich er­heb­lich grö­ße­res Jagd­glück erhoffte. Bei ei­nem der Ver­sor­gungs­stopps in Ecuador – inzwischen war man seit ei­nem Jahr auf See – setzte sich ei­ner der Ma­tro­sen ab, die Mann­schaft hatte un­ter dem rigiden Kommando des Ober­maats Owen Chase sehr ge­lit­ten.

Anfang Oktober 1820 nahm die Essex Kurs auf die Gala­pa­gos­in­seln. Man wollte dort Vor­rä­te auf­fri­schen und sich dem Haupt­jagd­ge­biet nähern, ent­deck­te aber ein Leck im Schiff, das vordringlich re­pa­riert wer­den musste. Noch lag man gut im Plan, etwa die Hälf­te der Fässer war mit Öl ge­füllt und die nächs­ten Wo­chen und Mo­na­te ver­spra­chen fette Beute. Man nahm 180 Schild­kröten auf, deren Fleisch auch nach längerer Zeit ohne Nahrung und Was­ser noch immer saf­tig und wohl­schme­ckend ist.

Entlang des Äquators ging es dann nach Westen, immer auf der Suche nach der nächsten Her­de Wa­le. Nach einigen er­folg­lo­sen Ver­su­chen er­blick­te man schließlich am 20. No­vem­ber 1820 einige Wal­fon­tä­nen in nicht allzu weiter Fer­ne, und drei Wal­fänger­boote wur­den zu Wasser gelassen. Zwei der Boo­te hatten bald ih­re ersten Opfer gefunden und die Har­pu­nen in die Tiere ver­senkt, das dritte Boot wurde von der Schwanz­flosse eines Wals be­schä­digt und musste re­pa­riert wer­den. Der Aus­guck der Es­sex nahm bald da­rauf einen Pott­wal wahr, der in seiner Größe alles über­traf, was sie bislang auf ih­rer Fahrt gesehen hatten. Zu­nächst schwamm der Wal ru­hig auf das Schiff zu, tauch­te dann ab und griff das Schiff an, nachdem er wieder an der Was­ser­ober­flä­che er­schie­nen war. Es machte den Ein­druck, als wäre das Tier be­täubt von dem harten Zu­sam­men­stoß mit dem Schiff, der Obermaat er­wog die Chancen, den Wal zu harpunieren ohne Gefahr zu laufen von der rie­si­gen Schwanz­flos­se wei­te­re Schä­den er­lei­den zu müssen. Die­ses Zögern nutzte der Wal für sei­nen zwei­ten und ent­schei­den­den Angriff. Die Zer­stö­run­gen waren im­mens, Was­ser drang in die Lager­räu­me, das Schiff be­gann zu sin­ken.

Der Wal greift an

Die Männer retten, was noch aus dem sin­ken­den Schiff zu ret­ten ist. Zwei Qua­dran­ten, zwei Na­vi­ga­tions­hand­bü­cher, zwei Kompasse, Werkzeug, Schiffs­zwie­back, ei­ne Mus­ke­te, zwei Pistolen, viel ist es nicht, und sie dürfen die Boo­te ja auch nicht überladen. Drei Wal­boo­te – jedes knappe 8 Me­ter lang, etwas über 2 Me­ter breit – für die 20 Mann Be­sat­zung. Das ramponierte Boot wurde mit 6 Mann be­setzt, die beiden an­de­ren mit je­weils 7 Mann. Die Boote wa­ren mit 5 Rudern aus­ge­stat­tet, jetzt sollten sie see­fest ge­macht werden, so­weit das mög­lich war. Man er­höh­te die Boots­wände, jedes Boot wur­de mit 2 Segeln ver­se­hen, doch wohin sich wenden, in wel­cher Rich­tung lag die Ret­tung?

Der Kapitän schlug vor gen Wes­ten zu segeln. Die Mar­que­sas, die auf kürzestem Weg zu er­rei­chen wären, wur­den ver­worfen, ebenso die etwas wei­ter südlich ge­le­ge­nen Insel des Tuamotu-Ar­chi­pels. Man ging da­von aus, dass die dort le­ben­den Ein­ge­borenen ihnen feind­lich ge­son­nen wären, darüber hi­naus sollten es Kannibalen sein. Die wei­ter entfernt lie­gen­den Ge­sell­schafts­inseln wä­ren das bes­se­re Ziel. Der Proviant wäre aus­rei­chend, würde sich keine weitere Ka­tastrophe er­eig­nen.

Die beiden Maate schlugen da­ge­gen die entgegen ge­setz­te Rich­tung vor, sie woll­ten zu­rück an die Küste Süd­ame­ri­kas. Ein direktes An­steuern der Küs­te war we­gen des Passats nicht möglich. Würde man aber zu­erst nach Süden segeln, könn­te man sich ab dem 26. Brei­ten­grad Richtung Küste trei­ben las­sen. Die Strecke war er­heb­lich länger als die von Pollard vor­ge­schla­ge­ne, den­noch ei­nig­te man sich schließ­lich darauf und die Tra­gö­die nahm ihren Lauf.

Sie hatten Vorräte für zwei Mo­na­te an Bord, doch schon nach wenigen Tagen war ein Teil des Schiffs­zwiebacks mit See­was­ser durch­tränkt. Stür­me rich­te­ten Schäden an den Booten an, eines wurde eines nachts von einem Orca an­ge­grif­fen und beschädigt. Man verlor sich aus den Augen und fand sich wieder. Die täg­li­chen Rationen mussten re­du­ziert werden, Durst und Hun­ger wurden un­er­träg­lich, Stür­me und Flauten zerr­ten an den Ner­ven, Ver­zweif­lung schlug um in Apa­thie.

Dann, am 20. Dezember, fast ei­nen Monat nach­dem man die sinkende Essex verlassen hat­te, Land in Sicht! Auf Hen­der­son (die man für die nahe ge­le­gene Insel Ducie hielt) jag­te man Vögel, fand jedoch erst nach langem Suchen ei­ne Süß­wasser­quelle, die zu­dem nur für etwa eine halbe Stun­de und bei absolutem Nied­rig­was­ser zu sehen war und an­sons­ten unter dem Was­serspiegel lag. Nach ei­ner Woche ent­schied man sich zur Wei­ter­fahrt. Drei Ma­tro­sen baten darum, auf der Insel bleiben zu dürfen, die verbliebenen 17 sta­chen am 27.12.1829 wieder in See.

Der Versuch, die Osterinseln an­zu­steuern schei­ter­te an un­günstigen Winden, am 10. Januar stirbt, völ­lig entkräftet und krank, der zweite Maat Matthew Joy, er wird dem Meer übergeben. Am 12. Januar wird das Boot des ersten Maats, Owen Chase, von den beiden anderen getrennt, am 20. Ja­nuar, 2 Monate nach dem Un­ter­gang der Essex, stirbt das älteste Mitglied seiner Crew, der Ma­tro­se Richard Peterson. Auch er wird im Meer be­stat­tet.

Währenddessen stirbt auf ei­nem der beiden an­de­ren Boo­te eben­falls ein Matrose. Die Nah­rungs­mit­tel sind auf­ge­braucht, die Männer ent­schei­den nach langen, zum Teil theo­lo­gischen Debatten, den Verstor­benen nicht der See zu übergeben. Sie wer­den zu Kan­ni­ba­len.

Am 29. Januar ver­lie­ren sich die beiden bis jetzt noch zu­sam­men gebliebenen Boote aus den Augen. Das Boot ohne Navigations­gerät blieb auf im­mer ver­schwunden.

Auf dem Boot des Kapitäns lebten noch 4 See­leu­te. Am 6. Februar losten sie aus, wer von ihnen ge­tö­tet werden sollte, um den anderen als Nah­rung zu dienen. Und sie ließen das Los ent­schei­den, wer den an­de­ren töten sollte. Am Ende, als sie schließlich doch noch gerettet werden sollten, waren nur noch zwei von ihnen am Leben ge­blie­ben.

Auch auf dem Boot des Ober­maats kam es schließlich zu Kannibalismus, wenn auch oh­ne die tragische Ge­wis­sens­entscheidung, ein Mit­glied der Crew töten zu müs­sen. Am 18. Februar stoßen sie auf ein Han­dels­schiff und sind end­lich ge­ret­tet. Pollards Boot wird 5 Tage später ent­deckt, die bei­den Über­le­ben­den re­agie­ren kaum auf die Versuche, sie an Bord des Wal­fängers Dauphin zu hie­ven.

Von den ursprünglich 21 See­leu­ten auf der Essex hat­ten 8 die Stra­pazen über­lebt. Pol­lard lief nach ei­ner Zeit der Ge­ne­sung wieder mit einem Wal­fän­ger aus, während Chase seine Er­in­ne­run­gen nie­der­schrieb. Nach der Ret­tung Pollards berichtete der dem Kapitän des Schiffes, das ihn auf­ge­nom­men hatte, von den Er­leb­nis­sen, die dieser so­fort nie­der­schrieb. Am Ende sei­nes Le­bens verfasste der jüngs­te der Mann­schaft, der Ka­jü­ten­junge Thomas Ni­cker­son, zusammen mit einem Jour­nalis­ten seine Version des Geschehens, die jedoch erst 1984, 100 Jahre nach sei­nem Tod, veröffent­licht wur­de.

Herman Melville Herman Mel­ville, der 1841 auf dem Wal­fän­ger Acush­net an­ge­heu­ert hatte, traf wäh­rend die­ser Fahrt auf William Chase, den Sohn des Ober­maats der Essex, der ihm die Auf­zeich­nun­gen seines Vaters lieh, die un­ter­des­sen als Buch er­schie­nen wa­ren. Melville kannte wohl auch die Le­gen­den um Mocha Dick, einen sehr hellen, fast weißen Wal, der um 1800 zuerst bei der chilenischen Insel Mocha ge­sich­tet worden war und der immer wieder Wal­fänger­schiffe an­ge­grif­fen ha­ben soll. Im New Yorker "Knickerbocker Magazine" er­schien 1839 ein Artikel "Mocha Dick: or The White Whale of the Pacific", den Melville gelesen haben könnte und der ihn zur Namens­gebung seines Moby Dick (erschienen 1851) in­spi­riert haben könnte.

Der Autor, Nathaniel Philbrick, ist Direktor des Institute of Ma­ri­time Studies und Mitglied der Nan­tucket Historical Asso­cia­tion. Seine akri­bische Re­kon­struk­tion der Ereig­nisse um die Essex basiert auf den Er­in­ne­run­gen der Über­le­ben­den Pol­lard, Chase und Nickerson, so­wie zeit­ge­nös­sischen Be­rich­ten. Darüber hinaus be­schreibt er aus­führ­lich wich­ti­ge As­pek­te, die sich aus dem Be­schrie­be­nen er­ge­ben: Die Ent­wick­lung des Walfangs auf Nan­tu­cket, so­wie die be­son­de­re Situation der Quäker, Fälle von Kan­ni­ba­lis­mus, die so sel­ten nicht wa­ren und nicht we­ni­gen See­leu­ten über­haupt erst das Über­leben nach Schiffs­ka­tas­tro­phen er­mög­lich­ten, Wal­an­grif­fe auf andere Schiffe, die Fol­gen von De­hy­drie­rung und Hun­ger, Bezüge zu Melvilles Moby Dick usw. Es ist ein in­te­res­san­tes, lehr­rei­ches und über­aus spannendes Buch, das ich nur empfehlen kann.

7. Mai 2020

Reisen

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