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Maurice Pinguet Der Freitod in Japan Maurice Pinguet
Der Freitod in Japan. Geschichte der ja­pa­ni­schen Kul­tur.
Aus dem Fran­zö­si­schen von Bea­te von der Os­ten, Makoto Oza­ki und Walther Fekl.
GATZA bei Eichborn 1996, 379 Sei­ten, ISBN 3-8218-0637-0

Der Freitod in Japan wird bei uns vor allem mit dem Ka­mi­ka­ze ja­pa­ni­scher Pi­lo­ten wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs und dem ri­tu­el­len Ha­ra­ki­ri (Sep­pu­ku) der Sa­mu­rai­krie­ger as­so­zi­iert. Doch der frei­wil­li­ge Tod hat eine lan­ge Tra­di­tion in Ja­pan und ist tief in den kul­tu­rel­len Wand­lun­gen der ja­pa­ni­schen Ge­sell­schaft ver­wur­zelt. Pin­guet ver­folgt und ana­ly­siert die­se Spu­ren, wo­bei er den Sui­zid im­mer nur als Symp­tom des grund­le­gen­den Ver­hält­nis­ses zwi­schen Staat/­Ge­sell­schaft/­Herr­scher ei­ner­seits und dem In­di­vi­duum an­de­rer­seits ver­steht, des­sen we­sent­li­che Säu­len die Hal­tung zu Eh­re und Op­fer­be­reit­schaft dar­stel­len.

So haben sich zwar die For­men des Frei­tods und sei­ne Häu­fig­keit durch die Jahr­hun­der­te im­mer wie­der ge­wan­delt, nicht zu­letzt durch die Ein­flüs­se des Budd­his­mus und des Kon­fu­zia­nis­mus. Grund­le­gend ge­blie­ben ist da­ge­gen ein ho­hes Ge­fühl der Ver­ant­wor­tung, das der Ein­zel­ne dem Ge­mein­schafts­we­sen ge­gen­über hat. Ver­sa­gen, Ehr­ver­lust, Lo­ya­li­tät, Nie­der­la­ge oder Ein­ge­ständ­nis von Schuld kön­nen Aus­lö­ser für ein­zel­ne oder in Grup­pen be­gan­ge­ne Frei­to­de sein, die in der Re­gel auf den Re­spekt der Um­welt sto­ßen.

Freitode müssen nicht im­mer so frei­wil­lig ge­we­sen sein, wie es den An­schein hat. Auch aus Grup­pen­druck, ge­sell­schaft­li­chen Er­war­tun­gen oder als Al­ter­na­ti­ve zur To­des­stra­fe aus­ge­führt, wur­den und wer­den Sui­zi­de be­gan­gen; auch hier spielt nicht sel­ten die Fra­ge der Ehre oder die Lö­sung ei­nes Kon­flikts durch die Op­fe­rung des ei­ge­nen Le­bens eine ent­schei­den­de Rolle.

Mit der Entstehung der Krie­ger­kas­te der Sa­mu­rai ent­wi­ckelt sich eine sehr spe­zi­fi­sche Form des Frei­tods: Sep­pu­ku (auch als Ha­ra­ki­ri be­kannt). Die­se Form des Frei­tods ist an stren­ge Ri­tu­a­le ge­bun­den, so­wohl in der Aus­füh­rung als auch in der Vor­be­rei­tung. Der Au­tor Yu­kio Mi­shi­ma be­schreibt dies sehr de­tail­liert in seiner Er­zäh­lung "Pa­tri­o­tis­mus" und be­ging ei­ni­ge Jah­re spä­ter selbst Sep­pu­ku, nach­dem er in ei­ner Re­de an ei­ni­ge tau­send Sol­da­ten eine Be­sin­nung auf die tra­di­tio­nel­len Wer­te der ja­pa­ni­schen Ge­sell­schaft ge­for­dert hat­te und auf Un­ver­ständ­nis ge­sto­ßen war. Sei­nem Le­ben und Werk ist das letz­te Ka­pi­tel des Bu­ches ge­wid­met.

Der Zweite Weltkrieg und die dro­hen­de Nie­der­la­ge Ja­pans führ­te zu einer spe­ziel­len Form des Frei­tods, dem Ka­mi­ka­ze, bei dem sich ja­pa­ni­sche Pi­lo­ten mit ih­ren mit Spreng­stoff be­la­de­nen Kleinst­flug­zeu­gen in US-ame­ri­ka­ni­sche Flug­zeug­trä­ger stürz­ten. Die auch da­durch nicht auf­zu­hal­ten­de Nie­der­la­ge Ja­pans lös­te dann eine grö­ße­re Wel­le von Sui­zi­den aus, die al­ler­dings nur in den sel­tens­ten Fäl­len noch den An­for­de­run­gen des tra­di­tio­nel­len Sep­pu­ku ent­spra­chen, meist be­dien­te man sich ei­ner Schuss­waf­fe oder stürz­te sich um­stands­los in ein Schwert.

Pinguet analysiert die kul­tu­rel­len und his­to­ri­schen Ent­wick­lun­gen Ja­pans durch die Jahr­hun­der­te und wel­chen Ein­fluss sie je­weils auf das Selbst­ver­ständ­nis der Men­schen hat­ten, die sich – aus wel­chen Grün­den auch im­mer – zu ei­nem Frei­tod ge­nö­tigt sa­hen. Das wirkt auf west­li­che Le­ser nicht sel­ten bi­zarr, und die Be­schrei­bung der un­ter­schied­li­chen Prak­ti­ken, ins­be­son­de­re die des Bauch­auf­schlit­zens, den Tod her­bei­zu­füh­ren, be­darf ei­ner ge­wis­sen Über­win­dung. Den­noch eine in­te­res­san­te, wenn auch auf­wüh­len­de Lek­tü­re, die mit ei­nem um­fang­rei­chen Glos­sar den Le­sern eine wert­vol­le Hil­fe­stel­lung bei dem teil­wei­se doch sehr spe­ziel­len Vo­ka­bu­lar bie­tet.


12. November 2024

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