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Lea Singer : Konzert für die linke Hand Lea Singer
Konzert für die linke Hand.
Roman.
Hoffmann und Cam­pe Verlag 2008, 463 Sei­ten
ISBN 978-3-455-40129-5

Karl Wittgenstein, ein ei­gen­wil­li­ger und sehr er­folg­rei­cher Self­made­man, häuf­te ei­nes der größ­ten Ver­mö­gen im da­ma­li­gen Öster­reich an. Sei­ne Frau und er wa­ren den Küns­ten zu­ge­tan, man mu­si­zier­te im Haus Witt­gen­stein auf ho­hem Ni­veau. Auch mit den Kin­dern, 9 an der Zahl, von de­nen ei­ne Toch­ter al­ler­dings bei der Ge­burt starb. Karl war ein stren­ger Va­ter, der sehr ge­naue Vor­stel­lun­gen von der Zu­kunft sei­ner Kin­der hat­te. De­ren In­te­res­sen und Be­ga­bun­gen spiel­ten da­bei kei­ne Rol­le, 3 sei­ner Söh­ne en­de­ten durch Sui­zid.

Paul, der älteste Sohn, strebte ei­ne Karriere als Konzertpianist an, als der Erste Weltkrieg ihn und seinen Bruder Ludwig, den spä­te­ren Philosophen, zu Sol­da­ten machte. Nach einer schwe­ren Verwundung musste ihm der rechte Arm amputiert wer­den, außerdem geriet er in rus­si­sche Kriegs­ge­fan­gen­schaft. Nach an­fäng­lichen De­pres­sio­nen entschied sich Paul für eine Fortsetzung seiner mu­si­ka­li­schen Karriere. Nach der Entlassung aus Ge­fan­gen­schaft und Militär erteilte er nam­haf­ten Kom­po­nis­ten Auf­trä­ge für Werke "für die linke Hand". Er selbst arrangierte Stücke von Bach, Beethoven, Chopin und vielen anderen um, und trat damit erfolgreich auf. Tourneen rund um den Globus schlossen sich an, seine Fa­mi­lie betrachtete seine Er­fol­ge mit gemischten Ge­füh­len. Kom­men die Men­schen in seine Konzerte, um ihn als Freak zu sehen oder seiner ausdrucksstarken Kunst we­gen?

Privat schien Paul be­zie­hungs­un­fä­hig, bis er schließlich eine sei­ner Schülerinnen, nach Jah­ren der heimlichen Ver­bun­den­heit, heiratete.

Nach dem "Anschluss" Öster­reichs an das Dritte Reich wur­den die Wittgenstein zu Ju­den erklärt, Paul verlor seine An­stel­lung als Lehrer am Neuen Wiener Konservatorium, die Fa­mi­lie war uneins wie sie mit der Si­tu­a­ti­on umgehen sollte. Paul emigrierte 1938 in die USA, seine Schwestern er­hiel­ten nach Zahlung von 1,8 Millionen Schweizer Franken den Status von "Mischlingen", Ludwig lebte seit längerem in England.

1961 starb Paul Wittgenstein als amerikanischer Staats­bür­ger und erfolgreicher Pianist an Herz­ver­sagen.

Lea Singer [1] nimmt Pauls Le­ben als Exempel, um die Um­stän­de der Zeit im damaligen Öster­reich, die Gräuel des Ers­ten Weltkriegs und die Si­tu­a­ti­on innerhalb der Familie Witt­genstein auf nach­voll­zieh­ba­re Weise darzustellen. Die Ri­va­li­tät zwischen Paul und Lud­wig, dem Liebling der Schwestern, dem man alles nachsieht, den man als Genie ver­ehrt, die Geringschätzung der Leistung Pauls, die Strin­genz, mit der er seine Ziele verfolgt, die Aus­ei­nan­der­setzung mit den Kom­po­nis­ten, die – nach Pauls Ansicht – ihre Werke nicht in angemessener Weise seinen Fähigkeiten ent­spre­chend einrichten usw. Ein bio­gra­fi­sches und kul­tur­his­to­ri­sches Ka­lei­dos­kop. Kei­ne hohe Literatur, dennoch lesenswert.

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1. Lea Singer (* 1960, Pseudonym von Eva Gesine Baur) studierte Kunstgeschichte, Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft, Musikwissenschaft und Ge­sang. Verfasserin von Bio­gra­fien und Sachbüchern, das Pseu­do­nym ist Romanen vor­be­hal­ten.

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2. Februar 2023

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