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Susan Sontag Das Leiden anderer betrachten Susan Sontag
Das Leiden anderer be­trach­ten.
Aus dem Englischen von Rein­hard Kaiser.
Carl Hanser Verlag 2003, 151 Sei­ten
ISBN 3-446-20396-6

Der Text ist vor 20 Jah­ren erschienen und wirkt, als wäre er aus ak­tu­el­lem An­lass ent­stan­den. Kriege und die damit verbundenen Gräu­el haben sich seit die­ser Zeit nicht we­sent­lich verändert. Die eigenen Opfer stehen noch immer über dem Leid der anderen, die Narrative passen sich den ver­än­der­ten Ge­ge­ben­hei­ten an.

Ausgehend von Virginia Woolfs Essay "Three Guineas", nähert sich Son­tag den krie­ge­ri­schen Aus­ei­nan­der­set­zun­gen der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit (Ju­go­sla­wien­krieg und die Kon­flik­te zwischen Pa­läs­ti­nen­sern und Israel) und analysiert: "Wo es da­rum geht, den Krieg als solchen zu ver­ur­tei­len, sind Informationen da­rü­ber, wer wann wo was getan hat, nicht er­for­der­lich; das will­kür­li­che, gnadenlose Ge­met­zel ist Aus­sa­ge ge­nug. Doch wer davon über­zeugt ist, daß das Recht nur auf einer Sei­te, das Unrecht und die Un­ter­drü­ckung aber auf der anderen Seite zu fin­den sind und daß der Kampf fortgesetzt wer­den muß, für den kommt es darauf an, wer von wem getötet wird." S.16

In diesem Zu­sam­men­hang kom­men Dar­stel­lun­gen auf Fo­tos oder in Fil­men eine be­son­de­re und komplexe Be­deu­tung zu. Sie sug­ge­rie­ren ein Abbild der Wirk­lich­keit und eine Ein­deu­tig­keit, wo es tat­säch­lich um Projektion und In­ter­pre­ta­tion geht. Son­tag analysiert eine Rei­he iko­no­gra­fi­scher Dar­stel­lun­gen krie­ge­ri­scher Sze­nen (etwa Ca­pas Foto des tödlich ge­trof­fe­nen fallenden re­pu­bli­ka­ni­schen Kämp­fers oder des Viet­na­me­sen, der die Pistole ei­nes Polizeioffiziers an die Schläfe gepresst be­kommt) und konstatiert, dass der Kon­text, in dem solche Szenen dar­ge­stellt werden, durch­aus va­ria­bel ist.

"Während der Kämpfe zwi­schen Serben und Kroa­ten zu Beginn der jüngs­ten Bal­kan­krie­ge wur­den von der ser­bi­schen und der kroa­ti­schen Pro­pa­gan­da die glei­chen Fotos von Kin­dern verteilt, die bei der Be­schie­ßung eines Dor­fes ge­tö­tet worden wa­ren. Man brauchte nur die Bild­le­gen­de zu ver­än­dern, und schon ließ sich der Tod dieser Kin­der so und anders nut­zen." S. 17

Wer würde bei diesen Sät­zen nicht an die ak­tu­el­len krie­ge­ri­schen Kon­flik­te den­ken.

Fotografien bilden Er­in­ne­run­gen an sich selbst und er­set­zen die Er­in­ne­rung an das Dar­ge­stell­te, worin Son­tag die Ge­fahr einer wach­sen­den Distanz zum tat­säch­li­chen Geschehen sieht. "Die Kon­zen­tra­tions­la­ger – oder viel­mehr die Fotos, die 1945 bei ihrer Befreiung ge­macht wurden – sind schon fast alles, woran die Leute im Zu­sam­men­hang mit dem Na­zis­mus und dem Elend des Zweiten Weltkriegs den­ken." S. 103

Das Buch liefert eine His­to­rie der bild­ne­ri­schen Darstellung krie­ge­ri­scher Gräuel, ihrer Wir­kung und der kri­ti­schen Aus­ei­nan­der­set­zung damit. So re­vi­diert Son­tag einige Aus­sa­gen, die sie 1978 in ih­ren Essays "Über Fo­to­gra­fie" (S. Fischer) ge­trof­fen hatte. 2003, dem Jahr, in dem das hier be­spro­che­ne Buch er­schien, erhielt Susan Son­tag in der Frank­fur­ter Paulskirche den "Frie­dens­preis des Deut­schen Buch­han­dels" ver­lie­hen. Mich hat seit Jahren kein Buch mehr so tief ge­trof­fen wie dieses.

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30. November 2023

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