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George Steiner: Exterritorial George Steiner
Exterritorial.
Schriften zur Literatur und Sprach­re­vo­lu­tion.
Suhrkamp Verlag 1974, 298 Sei­ten
ISBN 3-518-04373-3

Die hier ver­sam­mel­ten Es­says sind alle in den Jahren 1968 bis 1970 entstanden. Ih­nen ge­mein­sam ist der Ver­such, die "Sprach­re­vo­lu­tion", deren Ur­sprün­ge Stei­ner in der Zeit vor dem Ersten Welt­krieg aus­macht, als ei­ne "Ge­schich­te der Wandlungen, die im Sprach­be­wußt­sein und der kul­tu­rel­len Inhärenz der Spra­che seit etwa 1890 ein­ge­tre­ten sind", [1] zu beschreiben.

Die "Exterritorialität", die Stei­ner in der Mehr­spra­chig­keit be­deu­ten­der Autoren des 20. Jahr­hun­derts sieht (Nabokov, Be­ckett, Kafka, Borges, Joyce etc.), bedeutet gleich­zeitig den Ver­lust einer ein­deu­tigen sprach­li­chen Identität so­wie den Ge­winn einer sprach­li­chen Viel­falt und Tiefe, die der zeit­ge­nös­si­schen Literatur die Meis­ter­wer­ke der Mo­der­ne er­schaf­fen hat.

Ein Essay befasst sich mit der Li­te­ra­tur Louis-Fer­dinand Cé­lines unter dem Aspekt, "die Ko­exis­tenz von politischer Bar­ba­rei mit li­te­ra­ri­schem Wert ge­nau­er zu bestimmen" [2].

Für Steiner ist Literatur "lin­guis­ti­sche Kon­struk­tion" [3], wes­halb er die Geschichte lin­guis­ti­scher For­schung auf­zeigt und sich intensiv mit dem Mo­dell der generativen Trans­for­ma­tions­gram­ma­tik bei Noam Choms­ky aus­ei­nan­der­setzt. Choms­ky selbst kom­men­tiert die­sen Text in zahl­rei­chen aus­führ­li­chen Fuß­no­ten.

Ein 1968 von Arthur Koestler ge­staltetes Sym­po­sium in Alp­bach (Europäisches Forum Alp­bach) "Beyond Re­duc­tio­nism" nimmt Steiner zum An­lass, sich mit den dort vertretenen The­sen aus­ei­nan­der­zu­setzen. An­schlie­ßend geht er auf Cyril Dean Dar­ling­tons [4] 1970 ver­öf­fent­lich­tes Buch "The Evo­lu­tion of Man and Society" ein, das die Welt­ge­schich­te in der "Ter­mi­no­lo­gie biologischer Prin­zi­pien" [5] darstellt. Dar­ling­ton, der sich im­mer wieder der Kri­tik stellen musste, seine The­sen trans­por­tier­ten ein ras­sis­ti­sches Weltbild [6], er­fährt bei Stei­ner große Wert­schät­zung. "Er (Dar­lington KM) be­rich­tet von dem ein­zig­ar­ti­gen Kraft­fer­ment, das Re­for­ma­tion und Re­vo­lu­tion nach Europa brach­te und die Ur­sa­che davon war, daß die wei­ßen Rassen ei­nen so großen Teil der Erde be­herr­schen und be­leh­ren." [7] An die­ser Stelle setzt Steiner ei­ne Fuß­note, die ich kom­plett zi­tie­ren möchte:

"Zur Zeit machen Hysterie und Ma­so­chis­mus be­züg­lich der Rol­le der kaukasischen Min­der­heit bei der Schaffung und Aus­brei­tung der mensch­lichen Zi­vi­li­sa­tion es nahezu un­mög­lich, das Phä­no­men der 'wei­ßen Vorherrschaft' zu be­ur­tei­len. Sind die Wurzeln dieser Vor­herr­schaft zu­fäl­lig, so­zio­lo­gisch, kli­ma­tisch, ha­ben sie mit der Er­näh­rung zu tun (d.h. mit der un­ter­schied­li­chen Hö­he des Pro­te­in­kon­sums)? Leute, die der Em­pö­rung ihres ra­di­ka­len Ge­wis­sens über die 'von dem wei­ßen Mann an anderen Ras­sen be­gan­ge­nen Ver­bre­chen' öf­fent­lich Aus­druck ge­ben, ver­fal­len kaum auf die Ein­sicht, daß ih­re Ge­wis­sens­bis­se – mögen sie auch schau­spie­le­risch und op­por­tu­nis­tisch sein – selber ein dem west­lichen Emp­fin­den ei­gen­tüm­liches Phä­no­men sind. Alle Rassen ha­ben unter­drückt. Wieviele ha­ben des­we­gen der Reue Ausdruck ge­ge­ben?" [8]

Ich vermute (und hoffe), dass Stei­ner solche Be­mer­kun­gen im Lauf seiner weiteren Kar­rie­re nicht mehr geäußert hät­te. Oder sie wären ihm um die Oh­ren geflogen. Meine bis­lang ho­he Wert­schät­zung sei­ner Ar­bei­ten hat jedenfalls da­durch ei­ne star­ke Er­schüt­te­rung er­fah­ren. Zumal er ei­ni­ge Seiten da­nach noch schreibt: "C.D. Dar­ling­ton da­ge­gen hat man als Ras­sis­ten de­nun­ziert. Die­ser Vorwurf läßt sich, wie ich mei­ne, nicht auf­recht­er­hal­ten." [9]

Ich hätte mir gewünscht, Stei­ner hätte es bei sei­nen Aus­füh­run­gen zur Sprache und Li­te­ra­tur be­las­sen.

Zitate:

"Der Mensch wird Mensch, wenn er die Stufe der Spra­che er­reicht." S. 101

"Kein Schriftsteller hat jemals ei­ne aufrichtigere, eine bered­tere Aussage über den Wider­stand der Sprache gegen die Wahr­heit, über die Un­mög­lich­keit adäquaten ge­gen­sei­ti­gen Ver­ste­hens zwi­schen den Men­schen gemacht. Kafka ver­wen­det je­des Wort in einer von ihm als fremd erlebten Spra­che, als ha­be er es aus ei­nem ge­hei­men, dahin­schwin­denden Vor­rat ent­wen­det und müsse es in der Frü­he intakt wieder ab­lie­fern." S. 110

"Wenn Hölderlin, Rimbaud und Mallarmé sich als Ur­be­ben der Mo­der­ne heraus­stel­len, so des­halb, weil der Mo­der­nis­mus sich in der In­fra­ge­stellung des Me­diums aus­drück­te, weil er in sei­nem We­sen eben gerade die Mög­lich­keit festgelegter Form stän­dig un­ter­minierte. Für die­ses Vor­ge­hen haben das be­kann­te Verstummen Hölder­lins und Rim­bauds und die ma­gi­sche Knappheit von Mallarmé an­er­kann­te Prä­ze­denz­fälle ge­lie­fert." S. 111

"Tritt Sprache einmal in den Zu­stand der Literatur ein, so ver­hält sie sich exponentiell." S. 133

"Wir leben in einer dauernden Bran­dung der Ver­lo­gen­heit. Mil­lio­nen Wörter überfluten uns, ohne die Absicht einer kla­ren Aus­sa­ge. Stille wird zum Vor­recht einer ge­schütz­ten Eli­te oder zum Käfig der Ver­ein­sam­ten." S. 141

"Literatur ist die von der vor­dringlichen Ver­pflichtung zur In­for­ma­tion befreite Sprache." S. 187

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1. S. 10

2. S. 10
"Céline ging mit der fran­zö­si­schen Sprache um wie ein Bull­dozer, grub tief in der Tradition ihres Argot, im rüden Vokabular der Slums und Spitäler von Paris, im Un­ter­leibs­idiom des Patois; damit hob er Wort­fun­de, volks­tüm­li­che Elisionen, technische Exakt­heiten ans Licht, wie sie in der ge­wohn­ten Disziplin und Akku­ratesse der fran­zö­sischen literarischen Aus­drucks­weise keinen Platz haben." S. 69
"Selbst wo sie sich von der besten Seite zeigen, in der Reise ans En­de der Nacht und in Tod auf Kredit, an Stellen wie dem heiteren, über­mü­ti­gen und verrückten Ausflug des Erzählers nach England, gren­zen Célines Erfindungen und ihre Dar­stellungstechnik ans Pa­tho­lo­gi­sche." S. 73

3. S. 11

4. 1903 - 1981. Botaniker und Ge­ne­ti­ker, Mitglied der Royal Society

5. S. 268

6. So spricht er sich ausdrücklich ge­gen Ehen zwischen An­ge­hö­rigen verschiedener 'Rassen' aus und war wis­sen­schaftlicher Beirat der rassistischen Zeitschrift "Neue Anthropologie".

7. S. 271f

8. S. 272

9. S. 276

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12. Januar 2021

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