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Autoren Glossen Lyrik

Toibin Henry James Colm Tóibín
Porträt des Meis­ters in mitt­le­ren Jah­ren.
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini.
Carl Hanser Verlag 2005, 424 Sei­ten
ISBN 3-446-20664-7

Elf Monate der Jahre 1895 bis 1899 sind die Palette, mit der Colm Tóibín das Por­trät des Henry James zeichnet, das weit mehr ist als eine Bio­gra­phie. Schicht für Schicht ent­steht ein mehrdimensionales Pa­no­ra­ma, das Faulk­ners "Das Ver­gan­ge­ne ist nicht tot, es ist nicht ein­mal vergangen" zu il­lus­trie­ren scheint.

Tóibín lässt hinter allem, was James in diesen knapp fünf Jah­ren erlebt, Vergangenes prä­sent werden. Er­in­ne­run­gen – Ge­dan­ken, Träume, Er­eig­nis­se – wachsen in die Ge­gen­wart, in seine Ar­beit, in seine Be­zie­hun­gen. Er ist zu­rück­hal­tend, kon­ven­tio­nell, ver­kehrt ger­ne in gehobenen Krei­sen, be­ob­ach­tet und spinnt dabei Fä­den zu Ge­rüs­ten für seine neu­en Werke. Wir werden Zeu­gen der Ent­stehung von "The Turn of the Screw", "The Portrait of a Lady" und anderen Tex­ten. Wir erleben den Miss­er­folg seines The­a­ter­stücks "Guy Domville", eine ge­wis­se Ri­va­li­tät mit dem we­sent­lich er­folg­reicheren Os­car Wilde [1], Reisen nach Paris und Italien, die Zeit­ebenen wu­chern in­ei­nan­der. Es geht Tóibín eher um ein Psycho­gramm als um eine An­nä­he­rung an eine Bio­gra­phie: ein Por­trät eben. Und ein künst­le­ri­sches dazu.

Es gibt keine lei­den­schaft­li­chen Beziehungen im Leben des Henry James, der "sich für das menschliche Verhalten in­te­res­sier­te und alle Lei­den­schaf­ten streng unter Kon­trol­le hielt" [2]. Aber es gibt ein zö­gern­des Begehren, aus­führ­lich dar­ge­stellt im Ver­hält­nis zu einigen jungen Män­nern, ein Be­geh­ren, das – soweit be­kannt ist – unerfüllt blieb. Meis­ter­lich dar­ge­stellt in der Schil­de­rung einer Nacht, die James mit einem Freund sei­nes Bruders William [3], in ei­nem Zimmer verbringen muss, das nur über ein Bett ver­fügt.

Es gibt aber auch die am­bi­va­len­te Freundschaft mit der Schrift­stel­le­rin Constance Fe­ni­more Woolson [4], deren Suizid in Venedig James in schwere Schuld­ge­füh­le stürzt. Er lebt da­nach für einige Zeit in den Räu­men der Ver­stor­be­nen, um ab­schlie­ßend ihre Kleidung, ge­mein­sam mit ih­rem Leib­gon­doliere Tito, Stück für Stück in der Lagune vor Venedig zu ver­sen­ken. Die Be­schrei­bung der nur langsam im Wasser ver­sin­ken­den Kleider, von de­nen einige wieder an die Ober­fläche treiben und in der Däm­me­rung zuerst als Lei­chen wahr­ge­nom­men wer­den, ist für mich einer der Höhepunkte des Ro­mans, der nicht nur an die­ser Stelle eine stilistische Reminiszenz an James dar­stellt.

Henry James (1843 bis 1916) wuchs in den USA auf, lebte aber die längste Zeit seines Le­bens in England, dessen Staats­bür­ger­schaft er am En­de sei­nes Lebens auch er­hielt.

Colm Tóibín, 1955 in Irland ge­bo­ren, arbeitet als Schrift­stel­ler, Drehbuchautor, Jour­na­list und Li­te­ra­tur­kritiker. Er ver­öf­fent­lich­te Romane, Sach­bü­cher, Kritiken und ein The­a­ter­stück und ist dafür mehr­fach mit Preisen aus­ge­zeich­net wor­den.

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1. 1895 wurde Oscar Wilde wegen "Sodomy" zu zwei Jahren Zucht­haus verurteilt. Der Prozess er­reg­te große Aufmerksamkeit. Die voll­ständige Niederschrift des Pro­zes­ses ist 2003 im Blessing Verlag er­schie­nen: Merlin Holland: Oscar Wilde im Kreuz­ver­hör.

2. S. 344

3. William James (1842 – 1910), Pro­fes­sor für Psy­cho­lo­gie und Phi­lo­so­phie an der Harvard Uni­ver­sity.

4. Constance Fenimore Woolson (1840 – 1894), US-ame­ri­ka­ni­sche Schrift­stel­lerin. Stürzte sich aus dem Fenster ihrer Wohnung in Ve­ne­dig.

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24. Oktober 2022

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