Kassiber | |||||
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Franz Tumler Die Geschichte des Mantels ist kurz erzählt. Der ehemalige Zeichenlehrer Huemer sieht ihn im Schaufenster einer Schneiderei, er betritt den Laden ohne jede Kaufabsicht, spricht mit einer Mitarbeiterin, die den Mantel – es ist übrigens ein weißer Regenmantel – in den höchsten Tönen lobt, und geht wieder seiner Wege. Doch der Gedanke an den Mantel lässt ihn nicht los, und als er später wieder den Laden betritt, kauft er ihn auf gutes Zureden der Mitarbeiterin. Er zieht ihn nicht an, sondern bewahrt ihn in der Verpackung auf, die er in der Schneiderei bekommen hat. Als ihm der Mantel abhanden kommt, forscht er ihm mit großem Aufwand nach, verzichtet aber auf ihn, als er ihn wieder bekommen könnte. Diese Geschichte erzählt er im Kreis seiner Bekannten in immer neuen Varianten und stößt dabei – verständlicherweise – auf Misstrauen. Man fragt nach, deckt Widersprüche auf, äußert Zweifel an der Wirklichkeit des Geschilderten. Das alles wird uns nicht von Huemer selbst, sondern von einem Teilnehmer an dieser Runde berichtet, der uns auch über manches Seitengeschehen ins Bild setzt, das aber keineswegs zur Klärung des Sachverhalts beiträgt. Tumler (1912 – 1998) war überzeugter Nationalsozialist, seine literarischen Veröffentlichungen entsprachen dem Geist der Zeit. Nach dem Krieg gelang es ihm, Anschluss an die literarische Moderne zu finden, was sich auch in dieser 1959 zum ersten Mal veröffentlichten Erzählung widerspiegelt. Die Unzuverlässigkeit erzählerischen Schreibens ist das Thema, das wechselvolle Verhältnis Huemers zu dem Mantel, den er nicht braucht, ursprünglich noch nicht einmal wollte, um ihm später umso hartnäckiger nachzuspüren. Huemer selbst ist nicht in der Lage, seine Handlungen zu erklären, geschweige denn zu verstehen. Das Nachwort von Wendelin Schmidt-Dengler beschreibt die Bemühungen und Versuche, nach dem Brachschlag des Nationalsozialismus zeitgemäße Literatur zu schreiben. Tumlers Wandlung vom durch die Landschaften seiner österreichischen Heimat geprägten Autor hin zu einem experimentierenden Großstadtautor, der sich intensiv mit den Methoden des Nouveau roman auseinandersetzte. Der 2008 im Suhrkamp Verlag (BS 1438) erschienenen Ausgabe sind 24 bisher unveröffentlichte Zeichnungen Alfred Kubins beigefügt, die allerdings in einem anderen Zusammenhang entstanden sind. Umso erstaunlicher, wie gut sie zu dem Text passen. ---------------------------- 8. August 2023 |
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