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Autoren Glossen Lyrik

Der Berg der Liebe Unger Der Berg der Liebe.
Europäische Frauen­mystik.
Herausgegeben und ein­ge­lei­tet von Helga Unger.
Verlag Herder 1991, 280 Sei­ten
ISBN 3-451-21407-5

Es herrschte Unruhe im Chris­ten­tum des 12. und der fol­gen­den Jahr­hun­der­te. Der Klerus fühl­te sich durch di­ver­se Be­we­gun­gen aus dem Volk und den niederen Rän­gen der Kirche in seinem Selbst­ver­ständ­nis in Frage ge­stellt. Kritisiert wurde vor allem der Pomp und der mora­lische Verfall, Aus­schwei­fun­gen jeglicher Art, Pos­ten­scha­cher und so manches mehr. Das einfache Volk, aber auch Teile des Adels, sehnte sich nach der Er­fül­lung der christlichen Urprinzipien, Laien und ein­fache Mönche zo­gen durch die Länder und pro­pa­gier­ten ein Leben in Armut und Be­schei­den­heit. Auch viele Frau­en schlossen sich diesen Be­we­gun­gen an, und es bil­de­ten sich Gemeinschaften (die Be­gi­nen z.B.), in denen Frauen zusammen wohnten, zu­sam­men arbeiteten und sich der Betreuung der Armen und Kran­ken widmeten unter dem freiwilligen Gelübde von Ar­mut und Keusch­heit.

Aus diesem Milieu entwickelte sich ein Selbst­verständnis, aus dem heraus Frauen die re­li­giö­sen Schriften in ihren je­wei­li­gen Lan­des­spra­chen lasen und interpretierten, und immer wie­der gab es Per­sön­lich­kei­ten, die ihre Auslegung der Leh­re öf­fent­lich ver­kün­de­ten. Die Kir­che bemühte sich um eine Ka­na­li­sie­rung dieser Be­we­gun­gen, in­dem sie ein­zel­ne Grup­pen an be­reits be­ste­hen­de Orden anzubinden versuchte, andere der Hä­re­sie bezichtigte und ent­spre­chend verfolgte.

Helga Unger hat 5 Frauen aus die­ser Epoche aus­ge­wählt, die ihr durch ihre mys­tischen Er­leb­nis­se und Ver­kündigungen als exem­pla­risch für die Viel­falt des Phänomens er­schei­nen: Ha­de­wijch (lebte im 13. Jahr­hun­dert in Brabant), Mecht­hild von Mag­de­burg (ca 1207 bis 1282), Margarete Porete (ca. 1250 bis 1310), Birgitta von Schweden (1303 bis 1373) und Ka­tha­ri­na von Siena (1347 bis 1380).

Jeder dieser Mystikerinnen ist ein eigenes Kapitel gewidmet, das mit biographischen An­ga­ben und Erläuterungen zur Re­zep­tion ihrer Schriften be­ginnt, um dann ausführlich aus den Tex­ten zu zitieren.

Zentrales Thema der mys­ti­schen Visionen ist die Liebe ("Minne"), die nicht selten auf ekstatische Weise erlebt wird [1]. Die unio mystica, die Ver­ei­ni­gung mit Christus* oder gar Gott, wird (auch) als physische Erfahrung benannt, als eine Er­fah­rung, und des­sen sind sich die Mys­ti­ke­rin­nen bewusst, die jen­seits des Beschreibbaren liegt. Sie ver­suchen es den­noch und ihre Visionen gehen häufig über das kirchliche Ver­ständ­nis der Lehre Christi weit hinaus. Margarete Porete wur­de als Hä­re­ti­ke­rin auf dem Scheiter­haufen verbrannt, Bir­git­ta von Schwe­den und Ka­tha­ri­na von Siena hingegen wer­den spä­ter hei­lig ge­spro­chen.

Katharina von Siena Kopfreliquie* "Die Gottesmutter Ma­ria gab ih­rem Sohn Katharinas Hand, der ihr an den Finger einen wun­der­ba­ren Ring zum Zei­chen der Ver­mäh­lung steckte, der nur ihr zeitlebens sichtbar war." S. 220 [2]

Als Quelle gibt Helga Unger den ersten Biographen Ka­tha­ri­nas, Rai­mund von Capua (Das Le­ben der heiligen Katharina von Siena), an. Befremdlich mag es heute erscheinen, dass es sich bei diesem Ring um die hei­li­ge Vorhaut des Herrn (sanc­tum praeputium) ge­han­delt haben soll.

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1. "Mein Herz und meine Adern und alle meine Glieder schüt­ter­ten und bebten vor Begierde, und wie mir schon oft gewesen war, so wütend und schrecklich war mir zumute, daß ich glaubte, ich sei meinem Geliebten nicht genug und mein Geliebter erfülle mich nicht ganz: so müsse ich ganz gegen mich selbst wütend sterben und sterbend gegen mich wüten." S. 44. Unger zitiert hier aus Hadewijchs Vision VII.
Umberto Eco: "Während mir die Er­fah­rung des reinen, un­aus­sprech­li­chen Nichts ein fester Bestand­teil männlicher Mystik zu sein scheint, habe ich nicht den Ein­druck, dass viele Mystike­rinnen von Gott als reinem Nichts gespro­chen haben, sondern dass gerade die bedeu­tendsten unter ihnen von Christus als einer fast körper­lichen Präsenz sprachen. In der weib­lichen Mystik trium­phiert die Hiero­phanie, die sicht­bare Er­schei­nung des Hei­ligen, und die Schauen­de, die das Gottes­bild sieht, lässt sich seiten­lang in un­strit­tig ero­tischer Eks­tase über ihren Aus­tausch von Liebes­gefühlen mit dem Gekreu­zigten aus." (Auf den Schul­tern von Rie­sen, S. 374)

2. Ebenfalls unsichtbar blieben die Wundmale Christi, die sie am 1. April (kein Scherz) 1375 während einer Messe in Pisa empfangen hatte. S. 222

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19. Oktober 2022

Religion

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