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Hans Zender: Denken hören – Hören denken Hans Zender
Denken hören – Hören den­ken.
Musik als eine Grund­er­fah­rung des Lebens
Verlag Karl Alber 2016, 158 Sei­ten
ISBN 978-3-495-48863-8

Der Komponist und Di­ri­gent Hans Zender (1936 – 2019) ver­sam­melt in diesem Bänd­chen Aufsätze, Nach­ru­fe [1], ein Inter­view, vor al­lem aber Re­flexio­nen darüber, wie wir uns dem Wesen der Mu­sik, die für ihn das Wesen des Le­bens schlecht­hin aus­drücken kann, an­nä­hern können. Jen­seits der sprachlich ver­mit­tel­ba­ren Welt lie­gen Bereiche, die empfindbar und auch non­ver­bal zu kom­mu­ni­zie­ren sind, die sich uns aber zu­neh­mend entzogen ha­ben. Chris­ten­tum und Bud­dhis­mus, My­then und Me­di­ta­tion kön­nen be­hilf­lich sein, den Wi­der­spruch zwi­schen Logos und Pa­thos zu überwinden, ein sinn­li­ches Wahr­neh­men zu ent­wi­ckeln, das kri­ti­sches Den­ken nicht als Gegensatz emp­fin­det, son­dern es in sich auf­ge­nom­men hat. Musik kann da­zu nicht nur Hilfsmittel sein, sondern auch der kon­zen­trierte Aus­druck die­ser Be­mü­hun­gen. "Musik ist ein Den­ken mit den Sin­nen." S. 13

Dazu müssen wir hören ler­nen. Ent­spannt uns öff­nen, ei­ge­ne Er­fah­run­gen, Er­in­ne­run­gen und Kon­ven­tio­nen aus­schließen. Wir müssen uns be­frei­en von den Geräusch­ku­lis­sen, die in Kauf­häu­sern und Aufzügen das Gehör ab­stumpfen. Be­frei­en auch von der Be­lie­big­keit ne­ben­ein­an­der existie­render viel­fäl­ti­ger Mu­sik­for­men und hin zu ei­nem Verständnis der Viel­falt als ein sich wech­sel­sei­tig be­ein­flussendes In­spi­ra­tions­feld kom­men.

"Das musikalische Denken scheint in ein­zig­ar­ti­ger Weise die ra­tio­na­le mit der ir­ra­ti­o­na­len Seite un­se­res Geistes zu ver­bin­den." S. 17

Im Gespräch mit dem Me­di­zi­ner und Psy­cho­ana­ly­ti­ker Jo­han­nes Picht über Zenders kom­po­si­to­ri­sche In­ter­pre­ta­tio­nen zu Beet­hovens Diabelli-Va­ria­tio­nen wird deutlich, wie sehr für Zen­der die Mu­sik als Zeit im Raum wirkt und wie sich Zeit als Raum aus­drü­cken kann.

In seinem "Hör- und Denk-Ta­ge­buch" reflektiert Zen­der über das dialektische Ver­hält­nis von Füh­len und Denken, von In­nen und Außen, von Ich und Nicht-­Ich, von Gott und Welt. Das Ver­ständ­nis all des­sen muss in der Auflösung der Ge­gen­sät­ze bestehen, im in­ei­nan­der Aufgehen der Wi­der­sprü­che, im denkenden Fühlen. Die Moderne hat uns vor neue Pro­ble­me gestellt, die exem­pla­risch durch die Arbeiten von Georg Picht, Jean Gebser, Joyce, Proust, Messiaen oder Bernd Alois Zimmer­mann aus­ge­drückt wer­den.

In einem Exkurs über das Di­ri­gie­ren [2] the­ma­ti­siert Zen­der die Schwie­rig­kei­ten bei der Fin­dung des au­then­ti­schen Tem­pos und der Frage, ob es wäh­rend des Stückes bei­be­hal­ten oder variiert wer­den soll. Sein Fazit: Ein un­lös­ba­res Problem, das nur zu lö­sen ist, indem man erkennt, dass es un­lös­bar ist.

Das letzte Kapitel ist der Versuch eines Ver­gleichs zwi­schen dem biblischen Jo­han­nes­pro­log und dem bud­dhis­ti­schen Hann­ya Shingyo, in dem ein Sub­text die Ein­heit im Kern alles Sei­en­den er­kennt. "Wir leben in einer kul­tu­rel­len Si­tua­tion, in der alle Grund­begriffe und Zeichen, wel­che die einzelnen Kul­tu­ren bis­her ge­tra­gen ha­ben, hinter­fragt und neu for­mu­liert wer­den." S. 134

Und: "Man kann das Phä­no­men 'Kultur' nur noch als Viel­falt wahr­neh­men; wer von ei­ner 'Leit­kul­tur' oder über­ge­ord­ne­ten Kul­tur sprechen woll­te, wür­de der Wirk­lich­keit nicht ge­recht – ab­ge­se­hen da­von, daß er sich einem Fort­schritt ent­ge­gen­stel­len wür­de, der nach verstehender In­te­gra­tion strebt." S. 134

"Die Musik hat uns etwas zu sagen, was nicht anders als eben durch Musik zu sagen ist." S. 20

"… der Künstler arbeitet wie die Natur, welche nie­mals Ko­pien lie­fert, …" S. 23

"Wir müssen das Hören neu entdecken, das Hö­ren aber nicht ein­schrän­ken auf das ver­stehende Hö­ren im Sinn von bloßer for­ma­ler Analyse, son­dern im Sinne des Sich-Öffnens für das Un­be­kann­te, noch vor uns Lie­gende." S. 85

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1. Für Heinz-Klaus Metzger und Pierre Boulez. "Metz­ger nahm sich Zeit, begnügte sich für ein Urteil nicht mit einem einmaligen Hören, be­frag­te das Stück, statt es wie ein Insekt aufzuspießen und zu zer­glie­dern." S. 52

2. "Ein Dirigent muß heute vor al­lem die ver­schie­de­nen Stimmen un­se­rer Zeit hören lernen: durch das Hö­ren verstehen, um sie dann ver­ste­hend wieder hör­bar ma­chen zu können." S. 68

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24. Oktober 2020

Musik

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