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Christa Tuczay Die Herzesser Christa A. Tuczay
Die Herzesser.
Dä­mo­ni­sche Ver­bre­chen in der Do­nau­mo­nar­chie.
Mit einem Vorwort von Mark Be­necke.
Seifert Verlag 2007, 160 Sei­ten
ISBN 978-3-902406-28-6

Der Titel hört sich rei­ße­ri­scher an als es der In­halt ist. Denn es han­delt sich hier um eine kul­tur­ge­schicht­li­che Be­trach­tung über den Ver­zehr von Men­schen­fleisch, ins­be­son­de­re des Her­zens. Die The­ma­tik reicht zu­rück bis in die an­ti­ke My­tho­lo­gie und schlägt sich nie­der in Mär­chen und Le­gen­den. Ger­ne wer­den miss­lie­bi­ge Min­der­hei­ten des Kan­ni­ba­lis­mus be­zich­tigt, un­ter an­de­ren die Christen, die dann spä­ter selbst den Vor­wurf ge­gen Hä­re­ti­ker, Ju­den und He­xen ver­brei­te­ten. Ein Son­der­fall ist der Hun­ger­kan­ni­ba­lis­mus, der über die Jahr­hun­der­te bis in die Ge­gen­wart belegt ist, in den meis­ten Fäl­len aber vertuscht wird.

Seitdem europäische Mäch­te sich daran mach­ten, die Welt zu "ent­de­cken", ver­brei­te­ten sich die schau­rigs­ten Be­schrei­bun­gen von kan­ni­ba­lis­ti­schen Or­gi­en bei den "pri­mi­ti­ven", aber vor allem heid­ni­schen Völkern, denen das Heil des Herrn die Er­lö­sung bringen sollte. "In­zwi­schen ver­tre­ten Eth­no­lo­gen und Ar­chäo­lo­gen die Ansicht, dass die Be­rich­te über rituelle Men­schen­fres­se­rei, so­wohl his­to­ri­sche als auch ge­gen­wär­ti­ge, rei­ne Fan­ta­sie sei­en, rea­len rituellen Kan­ni­ba­lis­mus ha­be es we­der in Eu­ro­pa noch sonstwo auf der Er­de je ge­ge­ben." S. 27

Vermeintliche Hexen und Ju­den wur­den je­doch im­mer wieder Ziel sol­cher Narrative, sie op­fer­ten Men­schen, be­vor­zugt Kin­der, für ihre ma­gi­schen und Scha­den ver­brei­ten­den Ma­chen­schaf­ten und wur­den dafür verbrannt oder fielen töd­li­chen Po­gro­men zum Opfer. Der Volks­glau­be kann­te die Vor­stel­lung, dass nach dem Ver­zehr eines mensch­li­chen Her­zens der Tä­ter unsichtbar wer­den wür­de und so un­be­merkt Dieb­stäh­le oder an­de­re Delikte be­ge­hen könnte.

Tuczay berichtet von ei­ner Reihe von Fällen, die den Verzehr von Men­schen­fleisch be­schrei­ben, die sich über meh­re­re Jahr­hun­der­te in der Region der Do­nau­mo­nar­chie zu­ge­tra­gen ha­ben sollen. Die Ta­ten hatten selten ei­nen wirklich dä­mo­ni­schen Hinter­grund, meist handelte es sich um aber­gläu­bi­sche, aus der Welt gefallene Men­schen, die den Volks­glau­ben der Zeit ver­in­ner­licht hatten. Wo­bei na­tür­lich im­mer Zwei­fel an­ge­zeigt sind, ob sich die Taten überhaupt in der ge­schil­der­ten Wei­se zu­ge­tra­gen haben, die meis­ten Ge­ständ­nis­se wa­ren unter der Folter ent­stan­den und/oder wur­den aus pro­pa­gan­dis­ti­schen Zwecken auf­ge­bauscht.

Vereinzelt werden Fälle aus anderen Teilen Eu­ro­pas be­schrie­ben, mehr oder weniger aus­führ­lich wer­den his­to­ri­sche Per­sön­lich­kei­ten wie Gilles de Rais, Eli­sa­beth Ba­tho­ry, Fritz Haar­mann und an­de­re be­han­delt. Es gibt Ex­kur­sio­nen zu Wer­wöl­fen und dem Vam­pi­ris­mus so­wie ei­ni­gen Nie­der­schlä­gen in der Literatur (E.T.A. Hoffmann, Bret Easton Ellis, "Das Schwei­gen der Läm­mer").

Vorangestellt ist dem Buch ein launiges Vor­wort des be­kann­ten Fo­ren­si­kers Mark Be­ne­cke, den Ab­schluss bil­det ein mehr­sei­ti­ger An­mer­kungs­ap­pa­rat.

Christa Agnes Tuczay ist eine österreichische Alt­ger­ma­nis­tin und Kul­tur­wis­sen­schaft­le­rin. Sie stu­dier­te unter anderem Ger­ma­nis­tik, Eth­no­lo­gie, Phi­lo­so­phie und Psy­cho­lo­gie an der Uni­ver­si­tät Wien und pro­mo­vier­te über das The­ma "Der Un­hold oh­ne See­le". Seither forscht sie über Märchen und Le­gen­den, Mittelalter und Magie. Seit 1984 ist Tuc­zay als Do­zen­tin für äl­te­re deutsche Spra­che und Literatur an der Uni­ver­si­tät Wien tätig. Sie ha­bi­li­tier­te sich 1997 mit einer Ar­beit über "Mär­chen und Ma­gie im Mittelalter". Tuc­zay ist Mit­glied der Ös­ter­rei­chi­schen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten.

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7. November 2023

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