Kassiber leer
Autoren Glossen Lyrik

Mathias Énard: Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten Mathias Énard
Erzähl ihnen von Schlach­ten, Königen und Elefanten.
Aus dem Fran­zö­si­schen von Holger Fock und Sa­bi­ne Mül­ler.
Berlin Verlag 2011, 172 Sei­ten
ISBN 978-3-8270-1005-6

Seit über einem Jahr ar­bei­tet Mi­chelangelo Buo­narroti [1] schon an dem Grabmal für den noch le­ben­den Papst Ju­lius II. [2] Auf sei­ne Bit­ten, ihm Geld für seine Aus­la­gen und die Löhne der Ar­bei­ter zu­kom­men zu lassen, rea­giert der Papst mit Aus­flüch­ten und empfängt ihn schließ­lich nicht mehr. Ver­är­gert und ge­de­mü­tigt ver­lässt Mi­che­lan­ge­lo Rom und zieht sich nach Flo­renz zu­rück, wo er sich sicher vor den Scher­gen des Paps­tes weiß, die ihn zu­rückholen sol­len. Ei­nes Ta­ges er­schei­nen zwei Fran­zis­ka­ner­mön­che und über­brin­gen ihm ein ver­sie­gel­tes Schreiben, des­sen Absender sich als der Sultan von Kon­stan­ti­no­pel, Bayezid II. [3], her­aus­stellt. Er schlägt Mi­che­lan­ge­lo vor, eine Brücke über das Gol­de­ne Horn [4] zu ent­wer­fen, die den Orient mit dem Ok­zi­dent ver­bin­den wür­de. Die Ent­loh­nung wäre mär­chen­haft. Der Reiz ist groß, im­mer­hin war Leo­nar­do da Vinci an diesem Pro­jekt ge­schei­tert [5], aber würde er sich nicht den Papst da­mit zum Feind machen? Nach ei­ni­gem Zö­gern lässt sich Mi­chelangelo darauf ein und er­reicht am 13. Mai 1506 Kon­stan­ti­no­pel.

Die Stadt fasziniert Mi­che­lan­ge­lo. Das Auf­ei­nan­der­tref­fen un­ter­schied­li­cher Kul­tu­ren und Re­li­gio­nen, der leb­hafte Han­del, die Le­ben­dig­keit las­sen ihn durch die Straßen zie­hen, beob­ach­tend und am Abend eine Fülle von Zeichnungen zu Pa­pier brin­gend. Nur für die Brücke fehlen ihm noch die Ideen. Er be­sich­tigt die Werk­statt, in der er alte Mo­del­le fin­det, die noch von Leo­nar­do stam­men. Er zer­stört sie. Der Be­such der Ha­gia Sophia in­spi­riert ihn, er lässt sich Plä­ne brin­gen, stu­diert sie akri­bisch.

Am Abend besucht er in Be­glei­tung seines Dol­met­schers und des Dichters Mesihi [6], der zu­gleich einer der engs­ten Be­ra­ter des Groß­wesirs ist, ein Fest. Die fremd­artige Musik er­regt ihn, ei­ne Tän­ze­rin (oder ist es ein Tänzer?), der Wein be­rau­schen ihn. Eine neue und irri­tierende Er­fah­rung.

Immer noch keine Ideen für den Bau der Brücke, die zwei Fes­tun­gen mit­ei­nan­der ver­bin­den soll, um die herum ei­ne neue Stadt entstehen soll. Ein ano­ny­mer Brief droht ihm mit Ex­kom­mu­ni­ka­tion, falls er nicht bald zurück nach Rom kom­men soll­te, um das Grab­mal fertig zu stel­len [7]. Mesihi lädt ihn zu ei­ner Tour durch di­ver­se Ta­ver­nen ein, in ei­ner trifft er wie­der auf den Tän­zer/­die Tän­ze­rin, ist wie­der wie ver­zaubert von sei­nem/­ih­rem Ge­sang, den auf­rei­zen­den Be­we­gun­gen. Ars­lan, der lan­ge in Ve­ne­dig gelebt hat und per­fekt ita­lie­nisch spricht, stellt sich ihnen vor. Und er lädt sie zu sich nach Hau­se ein, um dort wei­ter zu feiern. Ein­schließ­lich des an­dro­gy­nen We­sens, von dem Michelangelo seine Au­gen nicht lassen kann. Me­si­hi, der in­zwi­schen Mi­che­lan­gelo liebt, erlebt vol­ler Ei­fer­sucht, dass sich Mi­che­lan­gelo und der Tän­zer/­die Tän­ze­rin zu­rück­zie­hen. Mi­che­lan­gelo lauscht im Dunkeln dem lei­sen Gesang, spürt dann ei­nen Kör­per, der sich an ihn schmiegt.

Am nächsten Tag, Mi­che­lan­ge­lo und Mesihi ha­ben sich in ei­nem Dampf­bad die ver­gan­ge­ne Nacht he­raus­ge­schwitzt, er­lebt Mi­che­lan­ge­lo end­lich die Vi­sion der Brücke, die er bauen muss. Ent­wür­fe ent­stehen, Modelle wer­den an­ge­fer­tigt, der Sul­tan ist be­geistert. Aber es gibt er­neut Prob­leme mit der Be­zah­lung. Sie soll erst in ei­nem fort­ge­schrit­tenen Sta­dium des Baus er­fol­gen, eine wei­tere De­mü­tigung.

Auf einem von ita­lie­ni­schen Händlern aus­ge­rich­te­ten Fest trifft Mi­chelangelo erneut auf die Tän­ze­rin/­den Tän­zer, sie zie­hen sich wie­der zurück. Doch in­zwi­schen hat Arslan, der im Auf­trag des Groß­we­sirs gegen Michelangelo in­tri­giert, um ihn beim Sul­tan zu diskreditieren, den Tänzer/­die Tän­ze­rin unter Druck gesetzt, sie soll Mi­che­lan­ge­lo töten. Mesihi hat davon er­fah­ren und tötet im letzten Moment seinerseits die Tän­ze­rin/den Tän­zer [8]. Michelangelo, der von all dem nichts weiß, ist empört und schlägt Mesihi nieder. Er ver­lässt daraufhin heim­lich die Stadt, Arslan zieht im Hintergrund die Fä­den und er­mög­licht ihm die schnel­le Flucht zu­rück nach Italien.

Epilog: Am 14. Sep­tem­ber 1509 wird Kon­stan­ti­no­pel von ei­nem star­ken Erd­beben er­schüt­tert [9], das Teile der Stadt zer­stört, Tau­sen­de ster­ben, Miche­lan­ge­los Brücke, die noch in ih­ren An­fän­gen steht, wird voll­stän­dig zer­stört. Mesihi, der so er­folg­rei­che Günstling des We­sirs, gibt sich voll­ends Wein und Opium hin, er stirbt ver­armt und ver­ges­sen.

Wir hören drei Stimmen aus dem Buch zu uns spre­chen: den auk­to­ria­len Erzähler, Mi­che­lan­ge­lo aus Briefen, die er an Freun­de in Italien schreibt, und die An­da­lu­sie­rin [10], wie sie in den letz­ten Ka­pi­teln des Buches genannt wird, die an­dro­gy­ne Gestalt, deren Ge­schlecht so un­ein­deu­tig ge­blie­ben ist wie die Iden­ti­tä­ten vie­ler Per­so­nen, die uns Énard vorstellt. Auch die Stadt – Kon­stan­ti­no­pel, Is­tan­bul [11] –, in der Mus­lime, Chris­ten und Juden zum ge­gen­sei­ti­gen Nutzen mit­ei­nan­der le­ben, ist ge­prägt durch Viel­falt, durch Un­ein­deu­tig­keit. Wie die Ha­gia Sophia, die Mo­schee, hin­ter de­ren Ver­scha­lun­gen sich die christ­lichen Bil­der und Sym­bo­le verbergen [12] und de­ren Pracht alles über­strahlt. Énards The­ma sind – wie spä­ter auch in seinem 2015 er­schie­ne­nen "Boussole" (in deut­scher Über­set­zung "Kom­pass") – die Brücken, die Orient und Ok­zi­dent ver­bin­den.

----------------------------

1. Michelangelo di Lo­do­vi­co Buonarroti Simoni (1475 – 1564) be­deu­ten­der Maler, Bildhauer, Dich­ter und Bau­meister.

2. Julius II. (1443 – 1513) war 10 Jahre lang Papst der rö­misch-ka­tho­lischen Kirche. Er ini­ti­ier­te den Bau des Pe­ters­doms (ab 1506) und verfügte über einen aus­geprägten Kunst­sinn. Er war politisch und mili­tärisch am­bi­tio­niert und zeugte drei Töchter.

3. Bayezid II. (1447 oder 1448 – 1512) war seit 1481 Sultan des Os­ma­ni­schen Reiches. Er schrieb Ge­dich­te und ließ die Beyazit-Mo­schee er­rich­ten.

4. Meeresarm am Bos­po­rus.

5. Leonardo bot 1502 dem Sul­tan an, eine Brücke über das Gol­de­ne Horn zu bauen. In seinen Skizzen­büchern findet sich ein Entwurf über die 350 Meter lange Brücke, die er dafür geplant hatte. Das An­ge­bot blieb un­be­ant­wor­tet.

6. Mesihi aus Pristina (ca. 1470 – 1512) war einer der be­deu­tends­ten Dichter sei­ner Zeit. Auch als Kal­li­graph machte er sich ei­nen Na­men. Darüber hi­naus war er der Sekretär des Großwesirs Khadim Ali Pasha.

7. Die Arbeiten am Julius­grabmal begannen im Jahr 1505 und en­de­ten 1545. Es steht in der Kirche San Pietro in Vincoli in Rom. Papst Julius II. ist al­ler­dings im Petersdom be­stat­tet werden, das Grab­mal ist ein reiner Ke­no­taph.

8. Mit einem Dolch, den Mi­che­lan­ge­lo im Auftrag eines Ita­lie­ners hatte her­stel­len las­sen.

9. Die Chroniken ver­zeich­nen den 10. September 1509 als Tag des Be­bens, das in der ganzen Re­gion Men­schen­le­ben kostete und zu er­heb­lichen Zer­stö­rungen führ­te. Énard ver­legt das Er­eig­nis auf den 14. Sep­tem­ber, auf den Tag, an dem Mi­che­lan­ge­lo seine Arbeiten in der Six­ti­ni­schen Kapelle be­gon­nen haben soll.

10. Die namenlose an­dro­gy­ne Ge­stalt wird als Jüdin be­schrie­ben, die nach dem Alhambra-Edikt (1492), das die Vertreibung der Ju­den aus Spanien vorsah, als Kind nach Istanbul fliehen konnte, wo Sul­tan Bayezid II. den Juden Asyl angeboten hatte.

11. Ursprünglich als By­zan­tion (Byzanz) ge­grün­det, wurde die Stadt nach dem Tod des rö­mischen Kaisers Konstantin der Gro­ße, der dort sei­ne Haupt­residenz errichtet hat­te, im Jahr 337 in Kon­stan­ti­no­pel um­be­nannt. Unter den Osmanen wurde die Stadt bereits seit dem 15. Jahrhundert alternativ Istan­bul genannt. Der Name setzte sich in­ter­national erst ab den 1930er Jahren durch.

12. Die Hagia Sophia wurde in den Jahren 532 bis 537 als by­zan­ti­nische Kirche gebaut. Zwischen 1453 und 1935 wurde sie als Mo­schee genutzt. Bis 2020 war sie Museum und ist aktuell wieder Mo­schee.

----------------------------

25. September 2020

Mathias Énard: Kom­pass

Gelesen : Weiteres : Impressum