Kassiber | |||||
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Mathias Énard Franz Ritter ist Musikwissenschaftler, dessen besondere Passion dem Orient gilt. Nicht zuletzt durch seine Liebe zu der französischen Orientalistin Sarah findet diese Passion immer neue Nahrung. In einer schlaflosen Nacht, tagsüber wurde ihm eine katastrophale medizinische Diagnose eröffnet, durchlebt er sich erinnernd beides: Liebe und Passion, sein Verhältnis zu Sarah und dem Orient, beides letztlich unerreichbar, Subjekte seiner unerfüllten Wünsche. Der Orient als Projektionsfläche, als Sehnsuchtsimagination [1] von Hammer-Purgstall bis Annemarie Schwarzenbach [2], eine Archäologie der Annäherung und Berührung, des Nehmens und des Unverständnisses, so ist Ritters Nacht durchwebt, wartend auf eine Email von Sarah, die ihn nach einer langen Zeit des Verstummens plötzlich wieder kontaktiert hat. Orte des gemeinsamen Erlebens ziehen durch sein Gedächtnis, Momente der Intimität, Gespräche, Lektüren, Berichte von Reisenden aus diversen Jahrhunderten, Gedichte und Kompositionen aus Orient und Europa, die sich gegenseitig befruchtet haben ohne einander wirklich zu durchdringen. Seine Zurückhaltung, versäumte Möglichkeiten, er durchleidet Stunde um Stunde in der Gewissheit, alles verloren zu haben: Sarah, die Zeit, sein Leben. Und – Scheherezade ähnelnd – er erinnert sich gegen den Tod, ringt um eine Hoffnung, die sich am Ende – zu spät? – erfüllen könnte. Der titelgebende Kompass taucht an verschiedenen Stellen des Textes auf und zeigt – mit einer Ausnahme [3] – nach Osten. Sarah schenkt Ritter ein entsprechend manipuliertes Exemplar, das damit auch auf sie hinweist. Hotelbetten, Gebetsteppiche und Wecker, in die ein Kompass eingelassen ist, der immer nach Mekka weist und damit die Orientierung vorgibt, die Ritters Leben bestimmt. Mathias Enard [4] bekam für Kompass den bedeutendsten und einflussreichsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt, verliehen. Benannt ist der Preis nach den Brüdern Edmond und Jules Goncourt, das Preisgeld beträgt lediglich 10 Euro, umso größer ist die Reputation, die mit diesem Preis verbunden ist, und umso lukrativer sind die Auflagen derart prämierter Bücher. Kompass liest sich nicht wie eine Reisebeschreibung, obwohl es viele Elemente davon enthält, es ist keine leichte Lektüre, es ist eine Kompilation der kulturellen Begegnungen von Orient und Okzident, aufgefächert durch die Erinnerungen an eine unerfüllte Liebe. Zweifellos einer der interessantesten Romane meiner letzten Lektürejahre. ---------------------------- 1. "Der Orient ist eine Konstruktion aus Bildern, ein Komplex von Repräsentationen, aus dem jeder, je nach Standpunkt, je nach Belieben schöpfe." S. 304 2. "Bei der Lektüre von Sarahs Randnotizen (...) konnte ich eine der fundamentalen Fragen erahnen, oder glaubte, sie zu erahnen, die nicht nur Sarahs Werk zugrunde lagen, sondern die auch die Texte von Annemarie Schwarzenbach so fesselnd machten – der Orient als Resilienz, als Suche nach Heilung von einer geheimnisvollen Krankheit, einer tiefliegenden Angst." S. 387 3. Beethovens Kompass, den Ritter im Beethovenhaus in Bonn besichtigen konnte, Sarahs Geschenk ist eine modifizierte Replik davon. 4. *1972 in Frankreich. Lebte einige Jahre im Mittleren Orient, seit 2000 in Barcelona. 2017 erhielt er für Kompass den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. ---------------------------- 7. Juni 2020 → Mathias Énard: Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten → Reisen |
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