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Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil Arno Geiger
Der alte König in sei­nem Exil
Carl Hanser Verlag 2011, 189 Sei­ten
ISBN 978-3-446-623634-9

Über Demenz zu schrei­ben ist in Mo­de ge­kommen [1]. Til­man Jens hat es ge­tan, Jo­na­than Fran­zen eben­so und vie­le an­de­re auch. Die Mo­ti­ve da­zu mö­gen sich un­ter­schei­den, aber es fällt auf, dass es vor al­lem rea­le Söh­ne sind, die über die rea­le De­menz ih­rer rea­len Vä­ter schrei­ben. So auch Arno Gei­ger in "Der al­te Kö­nig in sei­nem Exil".

Jedem Kapitel vo­ran­ge­stellt ist ein kur­zer Dia­log mit dem Va­ter, des­sen Be­mer­kun­gen so­wohl als Aus­druck der Er­kran­kung aus­ge­legt wer­den kön­nen, als auch den tief­grün­di­ge­ren Aus­druck ei­ner an­de­ren Wirk­lich­keit dar­stel­len kön­nen. Gei­ger stellt dem de­men­ten Va­ter sei­ne frü­he­re Per­sön­lich­keit ge­gen­über, oh­ne sie al­ler­dings als sich aus­schließen­de Ge­gen­sät­ze zu schil­dern. Der Be­ginn der Er­kran­kung wird des­halb auch nicht von der Fa­mi­lie er­kannt, die ers­ten Symp­to­me wer­den als per­sön­lich­keits­im­ma­nent wahr­ge­nom­men. Es ist ei­ne sehr be­hut­same Schil­de­rung, die den­noch ex­hi­bi­tio­nis­tische Ele­men­te in sich trägt. Dabei be­müht sich Gei­ger im­mer wie­der ex­pli­zit, die Wür­de des Va­ters nicht an­zu­tas­ten, was sich in ei­ner fast kli­nisch-­be­ob­ach­ten­den Spra­che aus­drückt. In­ter­es­san­ter­wei­se ge­winnt der Text aber erst dann ei­ne li­te­ra­ri­sche Qua­li­tät, wenn Gei­ger über sich selbst schreibt und über sein sich wan­deln­des Ver­hält­nis zum Va­ter. Er sucht nach Li­nien, die die ver­schie­de­nen Le­bens­pha­sen des Va­ters, vor und nach Be­ginn der Er­kran­kung, mit­ei­nan­der ver­bin­den könn­ten, er forscht nach Schat­tie­run­gen in der Per­sön­lich­keit und der Ge­schich­te des Va­ters, die das Un­er­klär­liche er­klä­ren könn­ten. Und fin­det da­bei in sich ei­ne Zu­nei­gung und Freund­schaft zum Va­ter, die dem Ver­ste­hen­wol­len die Prio­ri­tät nimmt.

Dennoch habe ich mich wie­der­holt ge­fragt, wa­rum man als Au­tor ei­nen Text über die De­menz ei­nes Fa­mi­lien­mit­glieds ver­öf­fent­licht. Da wird ein Mensch vor­ge­führt, der sich da­zu nicht mehr ver­hal­ten kann, der sich qua­si wehr­los in der Öf­fent­lich­keit se­zie­ren las­sen muss. Dass er davon nichts mehr mit­be­kommt, macht die An­ge­le­gen­heit nicht sym­pa­thi­scher.

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1. Perlentaucher führt am heu­ti­gen Tag (16.7.2020) 46 Ti­tel un­ter dem Stich­wort De­menz­er­kran­kun­gen auf.

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16. Juli 2020

Biographisches

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