Kassiber | ![]() |
||||
|
|||||
Madeleine Grawitz [1] hat an der Rechtsfakultät von Lyon unterrichtet, war Professorin für Politologie an der Sorbonne und Lehrbeauftragte für Öffentliches Recht. In ihrer über 500seitigen Abhandlung über den Revolutionär und Anarchisten Michail Bakunin erstellt sie ein Porträt des Menschen und der Zeit, in der er wirkte. Es handelt sich um die umfangreichste und fundierteste Biografie über Bakunin, die bislang in deutscher Sprache erschienen ist. Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814 – 1876) wuchs als eines von zehn Geschwistern auf einem Gut in der Provinzstadt Prjamuchino auf, seine Eltern entstammten altem russischen Adel. Bereits in der Kadettenschule gerät er in Konflikt mit den Autoritäten, sein Drang nach Freiheit, der sich schon im Verhältnis zu seinem Vater gezeigt hatte, schließt jetzt auch andere mit ein. Er will als Freier unter Freien leben. Es beginnt ein rastloses Leben mit zahllosen Bekanntschaften, zuerst auf der Universität, dann in den philosophischen Zirkeln, denen er angehört, schließlich auf seinen Reisen, die ihn durch ganz Europa führen. Einige dieser Beziehungen sollten ein ganzes Leben dauern (mit Herzen, Herwegh und Ogarjow z.B.), andere in Streit und Feindschaft enden (Netschajew und Marx, um nur diese beiden zu nennen). Er ist zu einem Teil der revolutionären Bewegungen Europas geworden und prägt sie entscheidend mit. Er tritt für die Souveränität Polens ein und unterstützt panslawistische Aktivitäten. Er ist ein Reisender in Sachen Umsturz. An den 1848er Aufständen beteiligt er sich lebhaft, in Dresden wird er 1849 in Haft genommen und zum Tode verurteilt. Doch er wird nach Österreich abgeschoben und von dort nach Russland, wo er in der Peter-und-Paul-Festung [2] den Rest seines Lebens verbringen soll. Vom Zar dazu aufgefordert, legt er eine "Beichte" ab, in der er einerseits offen und ohne Rücksicht auf die Folgen, die es für ihn haben könnte, über seine revolutionären Aktivitäten und Pläne berichtet (die sich häufig gegen eben diesen Zar gerichtet haben). Andererseits unterwirft er sich damit auf eine Weise, die seinem Renommee nachhaltig Schaden zufügen wird. Auch durch devote Briefe, die er an hohe Persönlichkeiten des Systems richtet, in denen er seine "Verbrechen" bereut und heilige Eide schwört, zukünftig als vorbildlicher Bürger uneingeschränkt dem Zaren zu dienen, sollte er aus der Festungshaft entlassen und nach Sibirien in die Verbannung geschickt werden. Als dem schließlich zugestimmt wird und Bakunin nach sechsjähriger Haft nach Sibirien verbracht wird, hatte er gesundheitliche Schäden erlitten, von denen er sich nie mehr ganz erholen sollte. Während der vier Jahre, die er in Sibirien verbringt, heiratet er eine um Jahrzehnte jüngere Frau [3] und steht in Kontakt mit einigen der ebenfalls verbannten Dekabristen [4]. Schließlich gelingt ihm 1861 über Japan die Flucht in die USA. Von dort kehrt er zurück nach Europa und beteiligt sich umgehend journalistisch und organisatorisch an revolutionären Aktionen in Polen und Italien. Immer wieder gründet er Geheimorganisationen, deren Bedeutung vor allem in den Köpfen der Mitglieder bestand, ihr politischer Einfluss ist im besten Fall minimal. In der inzwischen gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation (1. Internationale) kommt es zum Konflikt zwischen den Marxisten, die die Diktatur des Proletariats propagieren, und den Bakunisten, deren Ziel die Zerschlagung des Staates ist. Der Konflikt gipfelt im Ausschluss Bakunins und einiger seiner Mitstreiter aus der Internationale. Während dessen kämpft Bakunin aktiv in Lyon, wo 1870 eine Art Vorläufer der Pariser Kommune entstehen soll. Nach einigen Monaten ist der Aufstand niedergeschlagen und Bakunin lässt sich vorübergehend in der Schweiz nieder. Er trifft dort wieder auf Sergej Netschajew [5], mit dem er ursprünglich begeistert kooperierte, um mit der Zeit festzustellen, dass es sich um einen gewissenlosen Schurken handelt. Dennoch setzt er sich vehement gegen eine Auslieferung Netschajews an Russland ein. Bakunin verbringt seine letzten Lebensjahre in Italien, erschöpft und krank, wo er am 1. Juli 1876 an einer Harnvergiftung stirbt. Madeleine Grawitz hat mit dieser Biografie eine unglaubliche Recherchearbeit erbracht, hat unzählige Briefwechsel und Bibliotheken durchforscht, um ein Bild von Bakunin als einen Menschen zu zeichnen, der vor allem charismatisch, leidenschaftlich, gutmütig und ziemlich naiv gewesen ist. War ursprünglich der Gedanke der Freiheit sein alles bestimmendes Motiv, entwickelte sich im Lauf der Zeit die Erkenntnis, dass Freiheit ohne Gleichheit eine Chimäre ist. Sein gedanklicher und handelnder Schwerpunkt wandte sich zunehmend sozialen Fragen zu, sein Ziel wurde die soziale Revolution. Ein Schwerpunkt der Arbeit Grawitz' liegt in der Auseinandersetzung zwischen Marx und Bakunin, mit eindeutiger Sympathie für Bakunin, der sich immer wieder verleumderischen – und immer wieder widerlegten – Anschuldigungen von Marx und seinen Anhängern ausgesetzt gesehen hat. Es ist keine Hagiographie entstanden, sondern eine kritische Biografie, die uns Heutige erahnen lässt, wie groß der Einfluss Bakunins und seiner anarchistischen Theorie einst auf die revolutionären Bewegungen in Europa gewesen ist. ---------------------------- 1. 1911 – 2008 2. Die Festung wurde 1703 auf einer Insel in der Newa errichtet, im selben Jahr entstand Sankt Petersburg auf dem umliegenden Festland. Militärisch fand die Festung nur für kurze Zeit Verwendung, schon ab 1720 diente sie vor allem als Gefängnis. Prominente Gefangene waren Dostojewski, Gorki, Kropotkin und zahllose andere, deren Namen vergessen sind. 3. Antonia Kwiatkowskas (1840 – 1887) Familie stammte aus Polen, ihr Vater arbeitete als Sekretär eines Goldminenbesitzers in Sibirien. Sie lernte Bakunin 1858 als ihren Französischlehrer kennen, noch im selben Jahr heirateten sie. Zwei Jahre nach Bakunins Flucht folgte sie ihm nach London, später lebten die beiden in Italien und der Schweiz. 4. Als Dekabristen werden die Teilnehmer – vor allem Offiziere der russischen Armee – des Dezemberaufstandes von 1825 bezeichnet, welcher aus den Unstimmigkeiten um die Thronfolgefrage nach dem unerwarteten Tod des Zaren Alexander I. hervorgegangen ist. Die Dekabristenbewegung gilt als erste revolutionäre russische Bewegung. Ihre Anführer wurden hingerichtet, der größere Teil nach Sibirien verbannt. 5. 1847 – 1882. Gab vor, in der Peter und Paul Festung inhaftiert gewesen zu sein und führte sich so in die Kreise der russischen Exilgemeinde in der Schweiz ein. Zusammenarbeit unter anderem mit Bakunin. Richtete ein Mitglied seiner Geheimorganisation hin, nachdem er ihn des Verrats bezichtigt hatte. Wurde von der Schweiz nach Russland ausgeliefert, wo er nach zehnjähriger Haft in der Peter und Paul Festung starb. Vorbild für Dostojewskis Pjotr Werhowenski in "Dämonen". ---------------------------- 19. Juni 2023 |
|||||
Gelesen : Weiteres : Impressum |