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Madeleine Grawitz Bakunin Ein Leben für die Freiheit Madeleine Grawitz
Bakunin
Ein Leben für die Freiheit.
Aus dem Fran­zö­si­schen von Andreas Löhrer.
Edition Nautilus 1999, 558 Sei­ten
ISBN 3-89401-339-7

Madeleine Grawitz [1] hat an der Rechts­fa­kul­tät von Lyon un­ter­rich­tet, war Professorin für Politologie an der Sor­bonne und Lehr­be­auf­trag­te für Öf­fent­li­ches Recht. In ihrer über 500seitigen Abhandlung über den Revolutionär und Anar­chis­ten Michail Bakunin erstellt sie ein Porträt des Menschen und der Zeit, in der er wirkte. Es han­delt sich um die um­fang­reichs­te und fun­dier­tes­te Bio­gra­fie über Ba­ku­nin, die bis­lang in deutscher Sprache er­schie­nen ist.

Michail Alexandrowitsch Ba­ku­nin (1814 – 1876) wuchs als eines von zehn Ge­schwis­tern auf einem Gut in der Pro­vinz­stadt Prjamuchino auf, seine Eltern entstammten al­tem russischen Adel. Bereits in der Kadettenschule gerät er in Konflikt mit den Autoritäten, sein Drang nach Freiheit, der sich schon im Verhältnis zu seinem Vater gezeigt hatte, schließt jetzt auch andere mit ein. Er will als Freier unter Freien leben.

Es beginnt ein rastloses Le­ben mit zahllosen Be­kannt­schaf­ten, zuerst auf der Uni­ver­si­tät, dann in den phi­lo­so­phischen Zirkeln, denen er an­ge­hört, schließlich auf sei­nen Reisen, die ihn durch ganz Europa führen. Einige die­ser Be­zie­hun­gen sollten ein ganzes Leben dauern (mit Her­zen, Herwegh und Ogar­jow z.B.), andere in Streit und Feind­schaft enden (Net­scha­jew und Marx, um nur diese beiden zu nennen).

Er ist zu einem Teil der re­vo­lu­tio­nä­ren Be­we­gun­gen Eu­ro­pas geworden und prägt sie ent­schei­dend mit. Er tritt für die Sou­veränität Polens ein und unterstützt pan­sla­wis­tische Ak­ti­vi­tä­ten. Er ist ein Rei­sen­der in Sachen Um­sturz. An den 1848er Auf­stän­den beteiligt er sich lebhaft, in Dresden wird er 1849 in Haft genommen und zum Tode verurteilt. Doch er wird nach Österreich ab­ge­scho­ben und von dort nach Russland, wo er in der Peter-und-Paul-Fes­tung [2] den Rest seines Le­bens ver­brin­gen soll.

Vom Zar dazu aufgefordert, legt er eine "Beichte" ab, in der er einerseits offen und oh­ne Rücksicht auf die Folgen, die es für ihn haben könnte, über seine revolutionären Ak­ti­vi­tä­ten und Pläne be­rich­tet (die sich häufig gegen eben diesen Zar gerichtet ha­ben). An­de­rer­seits unterwirft er sich damit auf eine Weise, die seinem Renommee nach­hal­tig Scha­den zufügen wird. Auch durch devote Briefe, die er an hohe Persönlichkeiten des Systems richtet, in denen er seine "Ver­brechen" bereut und heilige Eide schwört, zu­künf­tig als vorbildlicher Bürger un­ein­ge­schränkt dem Zaren zu dienen, sollte er aus der Festungshaft entlassen und nach Sibirien in die Ver­ban­nung geschickt wer­den.

Als dem schließlich zu­ge­stimmt wird und Bakunin nach sechsjähriger Haft nach Si­bi­rien ver­bracht wird, hatte er ge­sund­heitliche Schäden er­lit­ten, von denen er sich nie mehr ganz erholen sollte. Wäh­rend der vier Jahre, die er in Sibirien ver­bringt, hei­ra­tet er eine um Jahrzehnte jüngere Frau [3] und steht in Kontakt mit einigen der eben­falls ver­bann­ten Dekabristen [4]. Schließlich gelingt ihm 1861 über Japan die Flucht in die USA. Von dort kehrt er zurück nach Europa und beteiligt sich umgehend jour­nalistisch und or­ga­ni­sa­to­risch an revolutionären Ak­tio­nen in Polen und Italien. Immer wie­der gründet er Ge­heim­or­ga­ni­sa­tionen, deren Bedeutung vor allem in den Köpfen der Mit­glie­der bestand, ihr po­li­tischer Einfluss ist im besten Fall minimal.

In der inzwischen ge­grün­de­ten Internationalen Ar­bei­ter­as­so­zia­tion (1. Internationale) kommt es zum Konflikt zwi­schen den Marxisten, die die Diktatur des Proletariats pro­pa­gie­ren, und den Ba­ku­nis­ten, deren Ziel die Zer­schla­gung des Staates ist. Der Kon­flikt gipfelt im Ausschluss Ba­ku­nins und einiger seiner Mit­strei­ter aus der In­ter­na­tio­na­le.

Während dessen kämpft Ba­ku­nin aktiv in Lyon, wo 1870 eine Art Vorläufer der Pariser Kom­mu­ne entstehen soll. Nach ei­ni­gen Monaten ist der Auf­stand niedergeschlagen und Bakunin lässt sich vo­rü­ber­ge­hend in der Schweiz nieder. Er trifft dort wieder auf Sergej Netschajew [5], mit dem er ursprünglich be­geis­tert ko­ope­rier­te, um mit der Zeit fest­zu­stel­len, dass es sich um einen ge­wis­sen­lo­sen Schurken han­delt. Dennoch setzt er sich ve­he­ment gegen eine Aus­lie­fe­rung Net­scha­jews an Russland ein.

Bakunin verbringt seine letz­ten Lebens­jahre in Italien, er­schöpft und krank, wo er am 1. Juli 1876 an einer Harn­ver­gif­tung stirbt.

Madeleine Grawitz hat mit die­ser Biografie eine un­glaub­liche Recherche­arbeit er­bracht, hat un­zäh­li­ge Brief­wechsel und Bibliotheken durchforscht, um ein Bild von Bakunin als einen Menschen zu zeichnen, der vor allem charismatisch, lei­den­schaft­lich, gutmütig und ziem­lich naiv gewesen ist. War ur­sprüng­lich der Gedanke der Freiheit sein alles be­stim­men­des Motiv, entwickelte sich im Lauf der Zeit die Erkenntnis, dass Freiheit ohne Gleichheit eine Chimäre ist. Sein ge­dank­licher und handelnder Schwer­punkt wandte sich zu­nehmend sozialen Fragen zu, sein Ziel wurde die soziale Revolution. Ein Schwerpunkt der Arbeit Grawitz' liegt in der Aus­ei­nan­der­setzung zwi­schen Marx und Bakunin, mit eindeutiger Sym­pa­thie für Bakunin, der sich immer wie­der ver­leum­de­ri­schen – und im­mer wieder wi­der­leg­ten – An­schul­di­gun­gen von Marx und seinen An­hän­gern aus­ge­setzt ge­se­hen hat.

Es ist keine Hagiographie ent­stan­den, sondern eine kri­ti­sche Biografie, die uns Heu­ti­ge erahnen lässt, wie groß der Einfluss Bakunins und sei­ner anarchistischen Theo­rie einst auf die re­vo­lu­tio­nä­ren Be­we­gungen in Europa ge­we­sen ist.

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1. 1911 – 2008

2. Die Festung wurde 1703 auf ei­ner Insel in der Newa errichtet, im selben Jahr entstand Sankt Petersburg auf dem umliegenden Festland. Militärisch fand die Festung nur für kurze Zeit Ver­wen­dung, schon ab 1720 diente sie vor allem als Gefängnis. Prominente Gefangene waren Dostojewski, Gorki, Kropotkin und zahllose andere, deren Na­men vergessen sind.

3. Antonia Kwiatkowskas (1840 – 1887) Familie stammte aus Polen, ihr Vater arbeitete als Sekretär ei­nes Gold­minen­be­sitzers in Si­bi­rien. Sie lernte Ba­ku­nin 1858 als ihren Fran­zö­sischlehrer kennen, noch im selben Jahr heirateten sie. Zwei Jahre nach Bakunins Flucht folgte sie ihm nach London, später lebten die beiden in Italien und der Schweiz.

4. Als Dekabristen werden die Teil­neh­mer – vor allem Offiziere der rus­si­schen Armee – des De­zem­ber­aufstandes von 1825 be­zeich­net, welcher aus den Un­stim­mig­kei­ten um die Thron­folge­frage nach dem uner­war­te­ten Tod des Zaren Alexander I. her­vor­ge­gan­gen ist. Die De­ka­bris­ten­bewegung gilt als erste revolutionäre rus­si­sche Be­we­gung. Ihre An­füh­rer wurden hin­gerichtet, der größere Teil nach Sibirien verbannt.

5. 1847 – 1882. Gab vor, in der Pe­ter und Paul Fes­tung inhaftiert ge­we­sen zu sein und führte sich so in die Kreise der russischen Exil­ge­mein­de in der Schweiz ein. Zu­sam­men­ar­beit unter anderem mit Ba­ku­nin. Richtete ein Mit­glied seiner Geheim­or­ga­ni­sation hin, nach­dem er ihn des Verrats be­zich­tigt hatte. Wurde von der Schweiz nach Russland ausge­lie­fert, wo er nach zehn­jähriger Haft in der Peter und Paul Fes­tung starb. Vorbild für Dosto­jewskis Pjotr Wer­ho­wens­ki in "Dämonen".

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19. Juni 2023

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