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Otto Gross Biografie Emanuel Hurwitz:
Otto Gross. Pa­ra­dies­su­cher zwi­schen Freud und Jung.
Suhrkamp Verlag 1988, 324 Seiten, ISBN 3-518-38004-4

Der Zürcher Psy­cho­a­na­ly­ti­ker Ema­nu­el Hur­witz (1935–2022) legt mit sei­ner Bio­gra­fie über Otto Gross (1877–1920) eine fun­dier­te An­nä­he­rung an eine der schil­lernds­ten und um­strit­tens­ten Fi­gu­ren der frü­hen Psy­cho­a­na­ly­se vor. Hur­witz' In­te­res­se an Gross wur­de wäh­rend sei­ner Tä­tig­keit als As­sis­tenz­arzt in der Psy­chi­a­tri­schen Po­li­kli­nik Burg­hölz­li in den 1960er Jah­ren ge­weckt, als er dort auf des­sen Kran­ken­ak­te stieß. Ge­stützt auf Er­nest Jones' Freud-Bio­gra­fie, den Brief­wech­sel zwi­schen Sig­mund Freud und C. G. Jung so­wie zahl­rei­chen Zeit­zeu­gen­be­rich­ten, ent­stand ein Ka­lei­dos­kop von An­sich­ten auf den Men­schen und Wis­sen­schaft­ler Otto Gross, das wi­der­sprüch­li­cher kaum sein könn­te. War er der schi­zo­phre­ne, dro­gen­ab­hän­gi­ge Anar­chist, der eine Ge­fahr für die All­ge­mein­heit und für sich selbst dar­stell­te? Oder war er der „ge­ni­als­te Schü­ler Freuds“ (E. Jones), ein em­pa­thi­scher und herz­li­cher Mensch und ori­gi­nel­ler Den­ker, der der Psy­cho­a­na­ly­se Im­pul­se gab, de­ren Be­deu­tung erst spä­ter er­kannt wer­den soll­te?

Das Leben Otto Gross' (1877–1920) war ge­prägt von dem Kon­flikt mit sei­nem Va­ter, Hans Gross, ei­nem Straf­recht­ler und Kri­mi­no­lo­gen. Er gilt als Be­grün­der der Kri­mi­na­lis­tik als straf­recht­li­che Hilfs­wis­sen­schaft, sein Ein­fluss war im­mens. Hans Gross' Re­ak­ti­on auf die in­tel­lek­tu­el­le und per­sön­li­che Dis­tan­zie­rung sei­nes Soh­nes gip­fel­te in Über­wa­chung, Zwangs­ein­wei­sun­gen und schließ­lich der Ent­mün­di­gung des Soh­nes.

Otto GrossOtto Gross, der seit Be­ginn des Jahr­hun­derts Co­ca­in und spä­ter Mor­phi­um kon­su­mier­te, ver­füg­te be­reits über Er­fah­run­gen so­wohl als Pa­tient als auch als The­ra­peut in psy­chia­tri­schen In­sti­tu­tio­nen. Früh hat­te er die Be­deu­tung der sich ent­wi­ckeln­den Psy­cho­a­na­ly­se er­kannt und be­ton­te in wach­sen­dem Maß die Rol­le ge­sell­schaft­li­cher Ver­hält­nis­se für die Ent­ste­hung von in­ne­ren Kon­flik­ten des Ein­zel­nen.

1908 ließ sich Otto Gross von Sig­mund Freud in Burg­hölz­li zur Ent­zie­hung und Ana­ly­se durch C.G. Jung ein­wei­sen. Dort ge­riet er in die Dy­na­mik der Be­zie­hung zwi­schen Freud und Jung, die sich in de­ren Brief­wech­sel zu ihm nie­der­ge­schla­gen hat. Of­fen­bar kam es zu ge­gen­sei­ti­gen Ana­ly­sen von Gross und Jung und Letz­te­rer äu­ßer­te sich in­spi­riert und voll des Lo­bes über sei­nen Pa­tien­ten. Was sich je­doch jäh än­der­te, als die­ser die Ana­ly­se nach ei­ni­gen Wo­chen ab­brach und aus der An­stalt floh. Jung dia­gnos­ti­zier­te da­rauf­hin: De­men­tia prae­cox, wo Freud noch von ei­ner Co­ca­in-Pa­ra­noia ge­schrie­ben hat­te.

Gross nahm um­ge­hend seine pub­li­zis­ti­schen Ak­ti­vi­tä­ten wie­der auf, sei­ne se­xu­al­wis­sen­schaft­li­chen Auf­sät­ze über­schrit­ten dann aber die To­le­ranz­fä­hig­keit der of­fi­ziel­len psy­cho­ana­ly­ti­schen Leh­re, er ge­riet ein­mal mehr zum Au­ßen­sei­ter.

Die Radikalität, mit der er die Auf­he­bung der Gren­zen zwi­schen The­o­rie und Pra­xis sei­ner re­vo­lu­tio­nä­ren Leh­ren be­trieb, hat­te ihn in Kon­takt zur künst­le­ri­schen, an­ti­bür­ger­li­chen Bo­hème ge­bracht, in der er ein ho­hes An­se­hen ge­noss. Men­schen aus die­ser Sze­ne wa­ren es dann auch, die eine Kam­pag­ne zu sei­ner Frei­las­sung be­trie­ben, als sein Va­ter ihn zwangs­ein­wei­sen und un­ter Ku­ra­tel stel­len ließ.

Nach dem Tod des Va­ters ver­lor Otto je­den Halt. Er starb, ein­sam und ver­wahr­lost, nach­dem man ihn fast ver­hun­gert in ei­nem Haus­ein­gang ge­fun­den hat­te, am 13. Fe­bru­ar 1920 in ei­nem Ber­li­ner Kran­ken­haus.

„Das Bewahren der ei­ge­nen In­di­vi­du­a­li­tät um je­den Preis, der ab­so­lu­te Kampf ge­gen An­pas­sung und De­pres­sion, die­ses Ent­we­der – Oder des streit­ba­ren Pro­tests ge­gen jede Form der Un­ter­wer­fung ei­ner­seits und des me­lan­cho­li­schen Rück­zu­ges in die Iso­la­tion an­de­rer­seits, ge­hört zur nar­ziß­ti­schen Cha­rak­ter­struk­tur Otto Gross'.“ S. 290

Emanuel Hurwitz (1935–2022): Zür­cher Psy­cho­a­na­ly­ti­ker mit meh­re­ren Pu­bli­ka­tio­nen zum An­ti­se­mi­tis­mus. Ihm steht das Ver­dienst zu, die ers­te Bio­gra­fie des bis da­hin völ­lig ver­ges­se­nen Otto Gross der Öf­fent­lich­keit über­ge­ben zu ha­ben. Sie ba­siert auf Hur­witz' Bei­trag im Ka­ta­log zur Aus­stel­lung „Monte Ve­ri­tá – Berg der Wahr­heit“, die um die Jah­res­wen­de 1978/79 in Zü­rich zu se­hen war und vom Au­tor er­heb­lich er­wei­tert wur­de.


Biographisches

28. Oktober 2025

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