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Der Zürcher Psychoanalytiker Emanuel Hurwitz (1935–2022) legt mit seiner Biografie über Otto Gross (1877–1920) eine fundierte Annäherung an eine der schillerndsten und umstrittensten Figuren der frühen Psychoanalyse vor. Hurwitz' Interesse an Gross wurde während seiner Tätigkeit als Assistenzarzt in der Psychiatrischen Poliklinik Burghölzli in den 1960er Jahren geweckt, als er dort auf dessen Krankenakte stieß. Gestützt auf Ernest Jones' Freud-Biografie, den Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und C. G. Jung sowie zahlreichen Zeitzeugenberichten, entstand ein Kaleidoskop von Ansichten auf den Menschen und Wissenschaftler Otto Gross, das widersprüchlicher kaum sein könnte. War er der schizophrene, drogenabhängige Anarchist, der eine Gefahr für die Allgemeinheit und für sich selbst darstellte? Oder war er der „genialste Schüler Freuds“ (E. Jones), ein empathischer und herzlicher Mensch und origineller Denker, der der Psychoanalyse Impulse gab, deren Bedeutung erst später erkannt werden sollte? Das Leben Otto Gross' (1877–1920) war geprägt von dem Konflikt mit seinem Vater, Hans Gross, einem Strafrechtler und Kriminologen. Er gilt als Begründer der Kriminalistik als strafrechtliche Hilfswissenschaft, sein Einfluss war immens. Hans Gross' Reaktion auf die intellektuelle und persönliche Distanzierung seines Sohnes gipfelte in Überwachung, Zwangseinweisungen und schließlich der Entmündigung des Sohnes.
1908 ließ sich Otto Gross von Sigmund Freud in Burghölzli zur Entziehung und Analyse durch C.G. Jung einweisen. Dort geriet er in die Dynamik der Beziehung zwischen Freud und Jung, die sich in deren Briefwechsel zu ihm niedergeschlagen hat. Offenbar kam es zu gegenseitigen Analysen von Gross und Jung und Letzterer äußerte sich inspiriert und voll des Lobes über seinen Patienten. Was sich jedoch jäh änderte, als dieser die Analyse nach einigen Wochen abbrach und aus der Anstalt floh. Jung diagnostizierte daraufhin: Dementia praecox, wo Freud noch von einer Cocain-Paranoia geschrieben hatte. Gross nahm umgehend seine publizistischen Aktivitäten wieder auf, seine sexualwissenschaftlichen Aufsätze überschritten dann aber die Toleranzfähigkeit der offiziellen psychoanalytischen Lehre, er geriet einmal mehr zum Außenseiter. Die Radikalität, mit der er die Aufhebung der Grenzen zwischen Theorie und Praxis seiner revolutionären Lehren betrieb, hatte ihn in Kontakt zur künstlerischen, antibürgerlichen Bohème gebracht, in der er ein hohes Ansehen genoss. Menschen aus dieser Szene waren es dann auch, die eine Kampagne zu seiner Freilassung betrieben, als sein Vater ihn zwangseinweisen und unter Kuratel stellen ließ. Nach dem Tod des Vaters verlor Otto jeden Halt. Er starb, einsam und verwahrlost, nachdem man ihn fast verhungert in einem Hauseingang gefunden hatte, am 13. Februar 1920 in einem Berliner Krankenhaus. „Das Bewahren der eigenen Individualität um jeden Preis, der absolute Kampf gegen Anpassung und Depression, dieses Entweder – Oder des streitbaren Protests gegen jede Form der Unterwerfung einerseits und des melancholischen Rückzuges in die Isolation andererseits, gehört zur narzißtischen Charakterstruktur Otto Gross'.“ S. 290 Emanuel Hurwitz (1935–2022): Zürcher Psychoanalytiker mit mehreren Publikationen zum Antisemitismus. Ihm steht das Verdienst zu, die erste Biografie des bis dahin völlig vergessenen Otto Gross der Öffentlichkeit übergeben zu haben. Sie basiert auf Hurwitz' Beitrag im Katalog zur Ausstellung „Monte Veritá – Berg der Wahrheit“, die um die Jahreswende 1978/79 in Zürich zu sehen war und vom Autor erheblich erweitert wurde. 28. Oktober 2025 |
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