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Autoren Glossen Lyrik

Inge Jens Unvollständige Erinnerungen Inge Jens
Unvollständihe Er­in­ne­run­gen.
Rowohlt 2009, 318 Sei­ten
ISBN 978 3 498 03233 3

Inge Jens beschreibt Per­so­nen, Pro­jek­te, Pha­sen ihres Le­bens in es­say­is­ti­scher Form, so­dass keine Au­to­bio­gra­fie im her­kömm­li­chen Sinn ent­stan­den ist. Es sind eher In­seln der Erinnerung, die aus dem Strom ihres Le­bens he­raus­ra­gen, Sta­tio­nen, de­nen sie eine be­son­de­re Be­deu­tung bei­misst.

Kapitel übergreifend ist ih­re Be­schäf­ti­gung mit den Kor­res­pon­den­zen und Ta­ge­bü­chern der Fa­mi­lie Mann, mit de­ren sach­kun­di­ger Pu­bli­ka­tion sie erst­mals öf­fent­lich aus dem Schat­ten ih­res Mannes Wal­ter Jens treten konnte. Ei­ne be­son­de­re Rolle spielt die Be­zie­hung zu Hans Mayer, dem sie be­ruf­lich und privat eng ver­bun­den war. Ihr En­ga­ge­ment ge­gen die Sta­tio­nie­rung von Per­shing­ra­ke­ten im Zu­sam­men­hang mit dem NA­TO-Dop­pel­be­schluss im De­zem­ber 1979 nimmt brei­ten Raum ein, eben­so ihre Ver­su­che, sich als Mut­ter zweier Söh­ne ei­ne be­ruf­li­che Kar­rie­re auf­zu­bau­en. Rei­sen in die DDR und Kon­tak­te zur dor­ti­gen Frie­dens­be­we­gung so­wie die Ar­beit an ver­schie­de­nen Pu­bli­ka­tio­nen wer­den aus­führ­lich behandelt. Und – im letz­ten Ka­pi­tel des Bu­ches – die Aus­ei­nan­der­set­zung mit der Krank­heit ihres Man­nes Wal­ter, der zu­neh­mend in die De­menz ab­glitt.

Mich hat das Buch eher ir­ri­tiert als interessiert. Ab­ge­se­hen von einer Spra­che, die von Aus­drü­cken wie "selbdritt" und "selb­zweit" durch­zo­gen ist, wa­ren es vor al­lem die Er­in­ne­run­gen an ihre Zeit im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus, die den Ein­druck ei­ner nur ober­fläch­li­chen, um nicht zu sa­gen nai­ven Aus­ei­nan­der­set­zung da­mit ent­ste­hen ließ. 1927 ge­bo­ren erlebte sie ih­re Ju­gend in Hamburg als glück­lich, mach­te Kar­rie­re im JM (Jung­mä­del­bund) und beim BDM (Bund Deutscher Mä­del) und ist dann ganz über­rascht, dass man ihr "als ehe­ma­li­ge HJ-Füh­re­rin" (Selbst­be­zeich­nung S. 53) 1946 ei­ne Ab­sa­ge er­teilt, als sie beim Nord­west­deut­schen Rundfunk ei­ne An­stel­lung an­strebt. Auch die SS-Uniform ih­res Va­ters (er war Sturm­füh­rer ei­ner Nach­rich­ten­ab­tei­lung der SS) emp­fand sie nicht als ir­gend­wie nach­den­kens­wert, Fil­me wie "Jud Suß" nicht als in­dok­tri­nie­rend (S. 33) und wä­ren nicht die Bom­ben­an­grif­fe der Al­li­ier­ten ge­we­sen, die ihr hei­mat­li­ches Um­feld zer­stört ha­ben, wäre ein wei­te­rer Auf­stieg in der Hie­rar­chie der Na­zis durch­aus vorstellbar ge­we­sen. Sie war damit si­cher kein Ein­zel­fall und es gereicht ihr zur Eh­re, in den Er­in­ne­run­gen da­rü­ber mit dieser Of­fen­heit zu schreiben. Den­noch hat die­ses ers­te Kapitel und ih­re Un­fä­hig­keit, die ei­ge­ne Rol­le in dem Sys­tem tief­grei­fen­der zu re­flek­tie­ren, mei­ne wei­te­re Lek­tü­re über­schat­tet und ge­trübt.

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17. Januar 2024

Tilman Jens: Va­ter­mord

Biographisches

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