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Jean Longuet Georgi Silber Die Bombe tötete den Großfürsten auf der Stelle Terroristen und Geheimpolizei im alten Rußland Jean Longuet / Georgi Silber
Die Bombe tötete den Groß­fürs­ten auf der Stel­le.
Terroristen und Ge­heim­po­li­zei im alten Ruß­land.
Aus dem Russischen und mit ei­nem Nachwort von Hans-Jürgen Leh­nert.
Aufbau Taschenbuch Ver­lag 1995, 268 Sei­ten
ISBN 978-3-7466-8019-4

Geheimdienste sind auf In­for­ma­tio­nen an­ge­wie­sen, die ih­nen von di­ver­sen Quellen zu­ge­tra­gen wer­den. Die Motive die­ser Informanten rei­chen von rei­ner Aben­teuer­lust über fi­nan­ziel­les Gewinnstreben bis hin zum po­li­tisch mo­ti­vier­ten Ver­rat an einer Sache, der sie einst mit gan­zem Herzen ge­dient hat­ten. Die häufigsten Grün­de dürften aller­dings in Ver­spre­chun­gen liegen, die ihnen nach ihrer Fest­nah­me und in Aussicht einer län­ge­ren Haft- oder gar der To­des­stra­fe ge­macht werden. Im Tausch ge­gen In­for­ma­tio­nen wird ih­nen eine bal­di­ge Entlassung an­ge­bo­ten oder Haft­er­leich­te­run­gen zugesagt. Man­che ge­hen auf sol­che Angebote ein in der An­nah­me, ihren bis­he­ri­gen Zie­len und Ka­me­ra­den wei­ter die Treue hal­ten zu können und ih­rer­seits In­for­ma­tio­nen ab­schöp­fen zu können. In der Re­gel geht das schief, sie ver­stri­cken sich immer tiefer in ein Ge­flecht des Verrats, dem sie nicht mehr ent­kom­men kön­nen. An­de­re wechseln dau­er­haft die Seiten oder ar­bei­ten als Doppelagent.

Der Text von Longuet und Sil­ber basiert auf der Re­cher­che der Au­to­ren, die 1909 erstmals pu­bli­ziert wur­de. 1917 hat­te Geor­gi Silber den Text um we­sent­li­che Pas­sa­gen ergänzt, er er­schien 1924 in einem Mos­kau­er Verlag. Da­rauf be­zieht sich die Über­set­zung Hans-Jür­gen Lehnerts, der in sei­nem Nach­wort die Dy­na­mik zwi­schen Ge­heim­diens­ten und ihren In­for­man­ten reflektiert, ins­be­son­de­re in den letz­ten Jahrzehnten des Za­ren­reichs. Es gab ei­ne Viel­zahl von agents pro­vo­ca­teurs, deren Be­deu­tung mit der Schwe­re der Straftaten wuchs, die sie ver­ra­ten hatten. Und es gab Per­so­nal in den Diens­ten, das durch seine Zu­sam­men­ar­beit mit den Spitzeln die eigene Karriere för­der­te. Je spek­ta­ku­lä­rer ein An­schlag – ob er nun verhindert wurde oder nicht – ausfiel, um so größer war die Chan­ce, daraus einen Vorteil zu ziehen und – en pas­sant – gefährliche Kon­kur­ren­ten und/oder Vor­ge­setz­te – wenn es sein muss­te, auch als Opfer des Anschlags – aus dem Weg zu räumen.

Exemplarisch werden die In­for­man­ten Sergej De­ga­jew [1], Ser­gej Su­ba­tow [2] und Geor­gi Ga­pon [3] vorgestellt, de­ren Tä­tig­kei­ten und Kar­rie­ren un­ter­schied­li­cher nicht sein könn­ten. Der Haupt­teil des Bu­ches ist jedoch Jewno Asew (1869 – 1918) ge­wid­met, der als Mitglied des Zen­tral­ko­mi­tees der Par­tei der So­zial­re­vo­lu­tio­nä­re und dessen be­waff­ne­ten Arms, der "Kampf­or­ga­ni­sa­tion", ver­ant­wort­lich für eine Viel­zahl von At­ten­ta­ten war und gleich­zei­tig als hoch­ran­gi­ger Agent des za­ris­ti­schen Ge­heim­diens­tes die Verhaftung un­ge­zähl­ter Mit­strei­ter ver­an­lass­te.

Asews Aktivitäten als Agent für Po­li­zei und Ge­heim­dienst reicht zu­rück bis in seine Stu­den­ten­zeit. Seitdem ra­di­ka­li­sier­te er sich im­mer mehr und sein Or­ga­ni­sa­tions­ta­lent brach­te ihn in immer wich­ti­ge­re Po­si­tio­nen innerhalb der po­li­ti­schen Or­ga­ni­sa­tio­nen, in de­nen er ak­tiv war. Als Mitglied des ZK der Par­tei der So­zial­re­vo­lu­tio­nä­re und de­ren Kampf­or­ga­ni­sa­tion, die die Anschläge vor­be­rei­te­te und aus­führ­te, hat­te er Ein­bli­cke und Ein­fluss­mög­lich­kei­ten wie kein zweiter. Sei­nem Ver­rat fielen in­ner­par­tei­li­che Kon­kur­ren­ten zum Op­fer, so­dass er schließ­lich freie Hand hatte bei der Pla­nung und Aus­füh­rung der Anschläge, mit de­nen die So­zial­re­vo­lu­tio­nä­re die Ver­hält­nis­se im Za­ren­reich de­sta­bi­li­sie­ren und einen Umsturz her­bei­füh­ren wollten. Häu­fig miss­lan­gen die An­schlä­ge un­mit­tel­bar vor ihrer Aus­füh­rung, die da­ran be­tei­lig­ten wur­den fest­ge­nom­men. Er­folg­reich ausgeführte At­ten­ta­te mehrten den Ruhm Asews, selbst wenn er nur einen ge­rin­gen Anteil an Pla­nung und Aus­füh­rung ge­habt hatte. Doch auf Grund der vielen Fehl­schlä­ge ka­men Ge­rüch­te auf, in­ner­halb des in­ners­ten Krei­ses der Or­ga­ni­sa­tion müsste es ei­nen Ver­rä­ter geben, Asew selbst blieb da­von al­ler­dings aus­ge­nom­men, zu groß war das An­se­hen, das er sich bei seinen Mit­strei­tern er­wor­ben hatte.

Erst dem So­zial­re­vo­lu­tio­när Wla­di­mir Burzew (1862 – 1942) ge­lang es nach langer Re­cher­che, Zweifel in die Spit­ze der Or­ga­ni­sa­tion zu sä­en, und es kam 1909 zu einem in Pa­ris ab­ge­hal­te­nen Eh­ren­ge­richt, in dem die Schuld oder Un­schuld Asews be­wie­sen wer­den sollte. Das Rich­ter­gre­mium be­stand aus Pjotr Kro­pot­kin, dem legendären Re­vo­lu­tio­när, der seit Jahr­zehn­ten im Exil in Lon­don leben musste, dem ehe­ma­li­gen Mit­glied der Na­rod­na­ja vol­ja [4] German Lo­pa­tin und der hoch an­ge­se­he­nen Vera Figner, eben­falls Mitglied der Na­rod­na­ja volja und nach dem Verrat De­ga­jews für 23 Jahre in der Schlüs­sel­burg inhaftiert. Bur­zew trug seine In­di­zien, die er un­ter an­de­rem in Gesprächen mit ehe­ma­li­gen Mitarbeitern der di­ver­sen Ge­heim­diens­te zu­sam­men­ge­tra­gen hatte, vor, Asew selbst stritt alle Vor­wür­fe ab, flüchtete dann aber nach Deutsch­land. Wäh­rend des 1. Welt­kriegs wurde er als "feind­li­cher Ausländer" in­haf­tiert, wo er sich ei­ne schwere Nie­ren­krank­heit zuzog, der er kurz nach seiner 1917 er­folg­ten Ent­las­sung er­lag.

Während Longuet und Sil­ber über die Motive spe­ku­lie­ren, die Asew an­ge­trie­ben haben könn­ten, sich als Dop­pel­a­gent zu be­tä­ti­gen, er­scheint es Hans-Jür­gen Lehnert ein­deu­tig: Asew hat von An­fang an ein mit der Zeit und dem Zu­wachs seiner Be­deu­tung in­ner­halb der Par­tei der So­zial­re­vo­lu­tio­nä­re stei­gen­des Ge­halt von der Geheimpolizei be­zo­gen, das es ihm er­mög­lich­te seine ex­tra­va­gan­ten Be­dürf­nis­se zu befriedigen.

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1. Degajew war für die Re­kru­tie­rung neuer Mitglieder für die Or­ga­ni­sa­tion Na­rod­na­ja volja zu­stän­dig. Nach seiner Verhaftung 1882 ver­riet er die noch ver­blie­be­nen Mit­glie­der des Exekutivkomitees und die illegale Infrastruktur der Grup­pe, die daraufhin zer­schla­gen war. Der rus­si­sche Geheimdienst ver­half ihm zur Flucht, um nach West­eu­ro­pa ge­flo­he­ne Mitglieder der Gruppe nach Russland zu locken. Statt dessen ermordete er den Chef der St. Pe­ters­bur­ger Ge­heim­po­li­zei Geor­gi Sudeikin. Ein in Pa­ris stattfindendes re­vo­lu­tio­nä­res Tri­bu­nal untersagte ihm jede weitere Aktivität, wo­rauf­hin er in die USA emi­grier­te.

2. Sergej Subatow (1874 – 1917) war in jungen Jah­ren selbst an re­vo­lu­tio­nä­ren Aktionen beteiligt. Nach seiner Festnahme er­klär­te er sich bereit als Spit­zel zu arbeiten. 1888 ent­tarnt gelang ihm eine stei­le Karriere innerhalb der Ochrana ("Si­cher­heits­ab­tei­lung" der rus­si­schen Ge­heim­diens­te). Um den re­vo­lu­tio­nä­ren Be­we­gun­gen den po­li­ti­schen Sta­chel zu nehmen, setz­te er sich für ge­werk­schaft­li­che For­de­run­gen nach Ver­bes­se­run­gen der wirt­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se der Ar­bei­ter ein. 1904 zog er sich zu­rück und erschoss sich 1917 nach der Abdankung des Zaren Nikolaus II.

3. Der russisch-orthodoxe Pries­ter Geor­gi Gapon (1870 – 1906) be­tei­lig­te sich an diversen ge­werk­schaft­li­chen Bewegungen, von de­nen er glaubte, sich an ihre Spitze set­zend, dem Zar Zugeständnisse wirt­schaft­li­cher Art ab­rin­gen zu kön­nen. Es erfolgte ei­ne rasche Ra­di­ka­li­sie­rung der Bewegung, die in ei­nem Marsch von zehn­tau­sen­den von Arbeitern zum Win­ter­pa­last gipfelte. Dort wurden sie von Sol­da­ten ohne Vorwarnung zu­sam­men­ge­schos­sen. Ga­pon ge­stand spä­ter Agent der Ochrana ge­we­sen zu sein, er wurde 1906 von Mit­glie­dern der Partei der Sozialrevolutionäre hin­ge­rich­tet.

4. Narodnaja volja: "Volks­wil­le". Agier­te aus dem Un­ter­grund in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahr­hun­derts. Veranlasste meh­re­re An­schlä­ge, denen schließ­lich auch der Zar Ale­xan­der II. zum Op­fer fiel. Der bereits erwähnte Ser­gej Degajew verriet die Or­ga­ni­sa­tion, ih­re Mit­glie­der wurden hin­ge­rich­tet, ver­bannt oder zu lang­jäh­ri­ger Fes­tungs­haft verurteilt.

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27. Dezember 2023

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