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Jean Longuet / Georgi Silber Geheimdienste sind auf Informationen angewiesen, die ihnen von diversen Quellen zugetragen werden. Die Motive dieser Informanten reichen von reiner Abenteuerlust über finanzielles Gewinnstreben bis hin zum politisch motivierten Verrat an einer Sache, der sie einst mit ganzem Herzen gedient hatten. Die häufigsten Gründe dürften allerdings in Versprechungen liegen, die ihnen nach ihrer Festnahme und in Aussicht einer längeren Haft- oder gar der Todesstrafe gemacht werden. Im Tausch gegen Informationen wird ihnen eine baldige Entlassung angeboten oder Hafterleichterungen zugesagt. Manche gehen auf solche Angebote ein in der Annahme, ihren bisherigen Zielen und Kameraden weiter die Treue halten zu können und ihrerseits Informationen abschöpfen zu können. In der Regel geht das schief, sie verstricken sich immer tiefer in ein Geflecht des Verrats, dem sie nicht mehr entkommen können. Andere wechseln dauerhaft die Seiten oder arbeiten als Doppelagent. Der Text von Longuet und Silber basiert auf der Recherche der Autoren, die 1909 erstmals publiziert wurde. 1917 hatte Georgi Silber den Text um wesentliche Passagen ergänzt, er erschien 1924 in einem Moskauer Verlag. Darauf bezieht sich die Übersetzung Hans-Jürgen Lehnerts, der in seinem Nachwort die Dynamik zwischen Geheimdiensten und ihren Informanten reflektiert, insbesondere in den letzten Jahrzehnten des Zarenreichs. Es gab eine Vielzahl von agents provocateurs, deren Bedeutung mit der Schwere der Straftaten wuchs, die sie verraten hatten. Und es gab Personal in den Diensten, das durch seine Zusammenarbeit mit den Spitzeln die eigene Karriere förderte. Je spektakulärer ein Anschlag – ob er nun verhindert wurde oder nicht – ausfiel, um so größer war die Chance, daraus einen Vorteil zu ziehen und – en passant – gefährliche Konkurrenten und/oder Vorgesetzte – wenn es sein musste, auch als Opfer des Anschlags – aus dem Weg zu räumen. Exemplarisch werden die Informanten Sergej Degajew [1], Sergej Subatow [2] und Georgi Gapon [3] vorgestellt, deren Tätigkeiten und Karrieren unterschiedlicher nicht sein könnten. Der Hauptteil des Buches ist jedoch Jewno Asew (1869 – 1918) gewidmet, der als Mitglied des Zentralkomitees der Partei der Sozialrevolutionäre und dessen bewaffneten Arms, der "Kampforganisation", verantwortlich für eine Vielzahl von Attentaten war und gleichzeitig als hochrangiger Agent des zaristischen Geheimdienstes die Verhaftung ungezählter Mitstreiter veranlasste. Asews Aktivitäten als Agent für Polizei und Geheimdienst reicht zurück bis in seine Studentenzeit. Seitdem radikalisierte er sich immer mehr und sein Organisationstalent brachte ihn in immer wichtigere Positionen innerhalb der politischen Organisationen, in denen er aktiv war. Als Mitglied des ZK der Partei der Sozialrevolutionäre und deren Kampforganisation, die die Anschläge vorbereitete und ausführte, hatte er Einblicke und Einflussmöglichkeiten wie kein zweiter. Seinem Verrat fielen innerparteiliche Konkurrenten zum Opfer, sodass er schließlich freie Hand hatte bei der Planung und Ausführung der Anschläge, mit denen die Sozialrevolutionäre die Verhältnisse im Zarenreich destabilisieren und einen Umsturz herbeiführen wollten. Häufig misslangen die Anschläge unmittelbar vor ihrer Ausführung, die daran beteiligten wurden festgenommen. Erfolgreich ausgeführte Attentate mehrten den Ruhm Asews, selbst wenn er nur einen geringen Anteil an Planung und Ausführung gehabt hatte. Doch auf Grund der vielen Fehlschläge kamen Gerüchte auf, innerhalb des innersten Kreises der Organisation müsste es einen Verräter geben, Asew selbst blieb davon allerdings ausgenommen, zu groß war das Ansehen, das er sich bei seinen Mitstreitern erworben hatte. Erst dem Sozialrevolutionär Wladimir Burzew (1862 – 1942) gelang es nach langer Recherche, Zweifel in die Spitze der Organisation zu säen, und es kam 1909 zu einem in Paris abgehaltenen Ehrengericht, in dem die Schuld oder Unschuld Asews bewiesen werden sollte. Das Richtergremium bestand aus Pjotr Kropotkin, dem legendären Revolutionär, der seit Jahrzehnten im Exil in London leben musste, dem ehemaligen Mitglied der Narodnaja volja [4] German Lopatin und der hoch angesehenen Vera Figner, ebenfalls Mitglied der Narodnaja volja und nach dem Verrat Degajews für 23 Jahre in der Schlüsselburg inhaftiert. Burzew trug seine Indizien, die er unter anderem in Gesprächen mit ehemaligen Mitarbeitern der diversen Geheimdienste zusammengetragen hatte, vor, Asew selbst stritt alle Vorwürfe ab, flüchtete dann aber nach Deutschland. Während des 1. Weltkriegs wurde er als "feindlicher Ausländer" inhaftiert, wo er sich eine schwere Nierenkrankheit zuzog, der er kurz nach seiner 1917 erfolgten Entlassung erlag. Während Longuet und Silber über die Motive spekulieren, die Asew angetrieben haben könnten, sich als Doppelagent zu betätigen, erscheint es Hans-Jürgen Lehnert eindeutig: Asew hat von Anfang an ein mit der Zeit und dem Zuwachs seiner Bedeutung innerhalb der Partei der Sozialrevolutionäre steigendes Gehalt von der Geheimpolizei bezogen, das es ihm ermöglichte seine extravaganten Bedürfnisse zu befriedigen. ---------------------------- 1. Degajew war für die Rekrutierung neuer Mitglieder für die Organisation Narodnaja volja zuständig. Nach seiner Verhaftung 1882 verriet er die noch verbliebenen Mitglieder des Exekutivkomitees und die illegale Infrastruktur der Gruppe, die daraufhin zerschlagen war. Der russische Geheimdienst verhalf ihm zur Flucht, um nach Westeuropa geflohene Mitglieder der Gruppe nach Russland zu locken. Statt dessen ermordete er den Chef der St. Petersburger Geheimpolizei Georgi Sudeikin. Ein in Paris stattfindendes revolutionäres Tribunal untersagte ihm jede weitere Aktivität, woraufhin er in die USA emigrierte. 2. Sergej Subatow (1874 – 1917) war in jungen Jahren selbst an revolutionären Aktionen beteiligt. Nach seiner Festnahme erklärte er sich bereit als Spitzel zu arbeiten. 1888 enttarnt gelang ihm eine steile Karriere innerhalb der Ochrana ("Sicherheitsabteilung" der russischen Geheimdienste). Um den revolutionären Bewegungen den politischen Stachel zu nehmen, setzte er sich für gewerkschaftliche Forderungen nach Verbesserungen der wirtschaftlichen Verhältnisse der Arbeiter ein. 1904 zog er sich zurück und erschoss sich 1917 nach der Abdankung des Zaren Nikolaus II. 3. Der russisch-orthodoxe Priester Georgi Gapon (1870 – 1906) beteiligte sich an diversen gewerkschaftlichen Bewegungen, von denen er glaubte, sich an ihre Spitze setzend, dem Zar Zugeständnisse wirtschaftlicher Art abringen zu können. Es erfolgte eine rasche Radikalisierung der Bewegung, die in einem Marsch von zehntausenden von Arbeitern zum Winterpalast gipfelte. Dort wurden sie von Soldaten ohne Vorwarnung zusammengeschossen. Gapon gestand später Agent der Ochrana gewesen zu sein, er wurde 1906 von Mitgliedern der Partei der Sozialrevolutionäre hingerichtet. 4. Narodnaja volja: "Volkswille". Agierte aus dem Untergrund in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. Veranlasste mehrere Anschläge, denen schließlich auch der Zar Alexander II. zum Opfer fiel. Der bereits erwähnte Sergej Degajew verriet die Organisation, ihre Mitglieder wurden hingerichtet, verbannt oder zu langjähriger Festungshaft verurteilt. ---------------------------- 27. Dezember 2023 |
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