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Irène Némirovsky Léon M., im russischen Zarenreich geboren und aufgewachsen, lebt jetzt im französischen Nizza im Exil. Er leidet seit seiner Kindheit unter Tuberkulose, die Lebenserwartung ist gering. In einem Café wird er von einem Russen als Marcel Legrand angesprochen und gefragt, ob er nicht vor Jahrzehnten in den "Fall Kurilow" verwickelt gewesen sei. Der Fragende war zu dieser Zeit als Polizist Teil des Sicherheitskordons, der den Schulminister Kurilow vor Attentaten schützen sollte. M. weicht aus. Wenig später erliegt Léon M. seinem Leiden, bei der Auflösung seines Haushalts wird eine Mappe mit Aufzeichnungen gefunden, die "Fall Kurilow" überschrieben ist. Es handelt sich dabei um Erinnerungen, die seinen Werdegang als Sohn zweier Revolutionäre beschreiben, seine Geburt in der sibirischen Verbannung, der frühe Verlust seiner Eltern und die quasi Patenschaft durch die revolutionäre Organisation, der seine Eltern angehört hatten (sie wird in der Sekundärliteratur immer wieder als "Bolschewiki" bezeichnet, während ich eher annehme, dass es sich um die Partei der Sozialrevolutionäre handelt, die Erwähnung eines Exekutivkomitees, die über die Planung und Ausführung der Attentate bestimmt, unterstützt diese Vermutung). Von dieser Organisation wird M. zu Beginn seiner 20er Jahre beauftragt, den Schulminister Kurilow, der immer wieder gewaltsam gegen demonstrierende Schüler und Studenten hat vorgehen lassen, mit einem spektakulären Attentat ums Leben zu bringen. M., dem einige Kenntnisse in der Medizin beigebracht worden waren, wird als Schweizer Bürger Marcel Legrand in das Umfeld des an Leberkrebs erkrankten Ministers gebracht und bald als eine Art Leibarzt von ihm angestellt. Dort erlebt er die Banalität des Lebens eines Karrieristen, die Intrigen und persönlichen Ränke, die in diesen Kreisen üblich sind und verliert den Glauben an die Sinnhaftigkeit eines Attentats gegen eine Charaktermaske, wie sie Kurilow darstellt. Doch das Komitee beharrt darauf und M. führt es gemeinsam mit seiner Kampfgefährtin Fanny während des Besuchs des Deutschen Kaisers aus. Zum Tode verurteilt, zu Deportation und Zwangsarbeit begnadigt, kann er aus Sibirien fliehen. 1917, nach der Oktoberrevolution, wird er Leiter der Tscheka, des sowjetischen Geheimdienstes, mit dem er brutal gegen jede Opposition vorgeht. Nach einigen Jahren verlässt er die Sowjetunion und lebt unter falscher Identität in Nizza. Das zentrale Element dieses nicht sehr umfangreichen Romans ist das Verhältnis Léon M.s zu Kurilow, das bereits beginnt bevor M. als Marcel Legrand in der Umgebung Kurilows platziert wird. Der Schulminister gilt als besonders brutaler und rücksichtsloser Vertreter des zaristischen Systems und M. empfindet keinerlei Skrupel, als er in die Planungen zu dem Attentat eingebunden wird und es auch ausführen soll. Nachdem er Kurilow vorgestellt worden ist und ihn auch privat im Kreis seiner Familie erlebt hat, entwickelt er eine Mischung aus Verachtung, Mitleid und Sympathie gegenüber diesem so inbrünstig um die Gunst des Zaren buhlenden Mann, dass er seiner Verbindungsperson zum Exekutivkomitee mitteilt, das Attentat nicht ausführen zu wollen. Durch die Intrige eines Konkurrenten Kurilows wird dieser seines Amtes enthoben, der Anschlag mithin überflüssig. Doch Kurilow seinerseits beteiligt sich an der Entmachtung seines Nachfolgers und wird wieder als Minister für das Schulwesen eingesetzt. Der Termin des Attentats wird auf dem Tag festgesetzt, an dem der Zar mit dem Deutschen Kaiser die Oper besuchen will. Im entscheidenden Moment zögert M. und Fanny wirft die Bombe, die Kurilow tötet. Nach der Festnahme übernimmt M. die alleinige Verantwortung für das Attentat. Irène Némirovsky hat sich bei der Wahl des Stoffes und der Charakterisierung des Protagonisten von den Aufzeichnungen des Sozialrevolutionärs Boris Sawinkow ("Erinnerungen eines Terroristen") inspirieren lassen, die 1909 und 1917 in russisch, 1931 in französischer Sprache erschienen sind. Irène Némirovsky (1903-1942), floh mit ihrer Familie nach der Oktoberrevolution nach Paris, wo sie ihre literarische Karriere begann. Trotz ihrer jüdischen Abstammung und der Ehe mit einem Juden wurden ihr immer wieder klischeehafte Darstellungen jüdischer Charaktere in ihren Romanen vorgeworfen. Sie scheute auch nicht den Kontakt zu offen antisemitisch publizierenden Journalisten und Autoren und schrieb unter Pseudonym selbst für eine antisemitische Zeitung. Der Deportation konnte sie dadurch aber nicht entgehen, sie starb 1942 im Alter von nur 39 Jahren in Auschwitz-Birkenau. → Boris Sawinkow: Das fahle Pferd. Roman eines Terroristen 5. Juli 2024 |
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