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Irene Nemirovsky Der Fall Kurilow Irène Némirovsky
Der Fall Kurilow. Roman.
Aus dem Fran­zö­si­schen von Dora Wink­ler.
Eichborn Verlag 1995, 201 Sei­ten
ISBN 3-8218-4121-4

Léon M., im russischen Za­ren­reich ge­bo­ren und auf­ge­wach­sen, lebt jetzt im fran­zö­si­schen Niz­za im Exil. Er lei­det seit sei­ner Kindheit un­ter Tu­ber­ku­lo­se, die Le­bens­er­war­tung ist ge­ring. In ei­nem Ca­fé wird er von einem Rus­sen als Mar­cel Le­grand an­ge­spro­chen und ge­fragt, ob er nicht vor Jahr­zehn­ten in den "Fall Ku­ri­low" ver­wi­ckelt ge­we­sen sei. Der Fra­gen­de war zu dieser Zeit als Po­li­zist Teil des Si­cher­heits­kor­dons, der den Schul­mi­nis­ter Ku­ri­low vor At­ten­ta­ten schüt­zen sollte. M. weicht aus.

Wenig später erliegt Léon M. sei­nem Leiden, bei der Auf­lö­sung sei­nes Haushalts wird ei­ne Map­pe mit Auf­zeich­nun­gen ge­fun­den, die "Fall Ku­ri­low" über­schrie­ben ist.

Es handelt sich dabei um Er­in­ne­run­gen, die sei­nen Wer­de­gang als Sohn zweier Re­vo­lu­tio­nä­re be­schrei­ben, sei­ne Ge­burt in der si­bi­ri­schen Ver­ban­nung, der frü­he Verlust sei­ner El­tern und die quasi Pa­ten­schaft durch die re­vo­lu­tio­nä­re Or­ga­ni­sa­tion, der sei­ne Eltern an­ge­hört hatten (sie wird in der Se­kun­där­li­te­ra­tur im­mer wie­der als "Bol­sche­wi­ki" be­zeich­net, wäh­rend ich eher an­neh­me, dass es sich um die Partei der So­zial­re­vo­lu­tio­nä­re han­delt, die Er­wäh­nung ei­nes Exe­ku­tiv­ko­mi­tees, die über die Planung und Aus­füh­rung der At­ten­ta­te be­stimmt, un­ter­stützt diese Ver­mu­tung). Von dieser Or­ga­ni­sa­tion wird M. zu Beginn sei­ner 20er Jahre be­auf­tragt, den Schul­mi­nis­ter Ku­ri­low, der immer wie­der ge­walt­sam ge­gen de­mons­trie­ren­de Schü­ler und Studenten hat vor­ge­hen las­sen, mit ei­nem spek­ta­ku­lä­ren At­ten­tat ums Le­ben zu brin­gen.

M., dem einige Kennt­nis­se in der Medizin bei­ge­bracht wor­den wa­ren, wird als Schwei­zer Bür­ger Mar­cel Legrand in das Um­feld des an Le­ber­krebs er­krank­ten Mi­nis­ters ge­bracht und bald als eine Art Leib­arzt von ihm angestellt. Dort erlebt er die Ba­na­li­tät des Lebens eines Kar­rie­ris­ten, die Intrigen und per­sön­li­chen Rän­ke, die in diesen Krei­sen üb­lich sind und ver­liert den Glauben an die Sinn­haf­tig­keit eines At­ten­tats ge­gen eine Cha­rak­ter­mas­ke, wie sie Ku­ri­low darstellt. Doch das Komitee be­harrt da­rauf und M. führt es ge­mein­sam mit seiner Kampf­ge­fähr­tin Fan­ny wäh­rend des Besuchs des Deut­schen Kai­sers aus.

Zum Tode verurteilt, zu De­por­ta­tion und Zwangs­ar­beit be­gna­digt, kann er aus Si­bi­rien fliehen. 1917, nach der Ok­to­ber­re­vo­lu­tion, wird er Lei­ter der Tsche­ka, des sow­je­ti­schen Ge­heim­diens­tes, mit dem er bru­tal gegen je­de Op­po­si­tion vor­geht. Nach ei­ni­gen Jahren ver­lässt er die Sow­jet­union und lebt unter fal­scher Identität in Nizza.

Das zentrale Element die­ses nicht sehr um­fang­rei­chen Ro­mans ist das Verhältnis Léon M.s zu Ku­ri­low, das bereits be­ginnt bevor M. als Mar­cel Le­grand in der Um­ge­bung Ku­ri­lows plat­ziert wird. Der Schul­mi­nis­ter gilt als be­son­ders bru­ta­ler und rück­sichts­lo­ser Ver­tre­ter des zaristischen Sys­tems und M. empfindet kei­ner­lei Skrupel, als er in die Pla­nun­gen zu dem Attentat ein­ge­bun­den wird und es auch aus­füh­ren soll. Nach­dem er Kurilow vor­ge­stellt wor­den ist und ihn auch privat im Kreis sei­ner Familie erlebt hat, ent­wi­ckelt er eine Mi­schung aus Ver­ach­tung, Mit­leid und Sympathie ge­gen­über die­sem so in­brüns­tig um die Gunst des Zaren buh­len­den Mann, dass er sei­ner Ver­bin­dungs­per­son zum Exe­ku­tiv­ko­mitee mitteilt, das At­ten­tat nicht aus­füh­ren zu wollen. Durch die Intrige eines Kon­kur­ren­ten Kurilows wird die­ser sei­nes Amtes ent­ho­ben, der An­schlag mit­hin überflüssig. Doch Ku­ri­low sei­ner­seits be­tei­ligt sich an der Ent­mach­tung seines Nach­fol­gers und wird wie­der als Minister für das Schul­we­sen eingesetzt. Der Ter­min des At­ten­tats wird auf dem Tag fest­ge­setzt, an dem der Zar mit dem Deut­schen Kai­ser die Oper be­su­chen will. Im ent­schei­den­den Mo­ment zögert M. und Fanny wirft die Bom­be, die Kurilow tö­tet. Nach der Fest­nah­me über­nimmt M. die al­lei­ni­ge Ver­ant­wor­tung für das At­ten­tat.

Irène Némirovsky hat sich bei der Wahl des Stof­fes und der Cha­rak­te­ri­sie­rung des Pro­ta­go­nis­ten von den Auf­zeich­nun­gen des So­zial­re­vo­lu­tio­närs Bo­ris Sa­win­kow ("Er­in­ne­run­gen eines Ter­ro­ris­ten") in­spi­rie­ren lassen, die 1909 und 1917 in rus­sisch, 1931 in fran­zö­si­scher Sprache er­schie­nen sind.

Irène Némirovsky (1903-1942), floh mit ih­rer Fa­mi­lie nach der Ok­to­ber­re­vo­lu­tion nach Pa­ris, wo sie ih­re li­te­ra­ri­sche Karriere be­gann. Trotz ih­rer jü­di­schen Ab­stam­mung und der Ehe mit ei­nem Juden wur­den ihr immer wieder kli­schee­haf­te Dar­stel­lun­gen jü­di­scher Cha­rak­te­re in ihren Ro­ma­nen vor­ge­wor­fen. Sie scheu­te auch nicht den Kon­takt zu of­fen an­ti­se­mi­tisch pu­bli­zie­ren­den Jour­na­lis­ten und Au­to­ren und schrieb unter Pseu­do­nym selbst für ei­ne an­ti­se­mi­ti­sche Zei­tung. Der De­por­ta­tion konn­te sie da­durch aber nicht entgehen, sie starb 1942 im Alter von nur 39 Jahren in Ausch­witz-Bir­ke­nau.


Boris Sa­win­kow: Das fah­le Pferd. Ro­man ei­nes Ter­ro­ris­ten

5. Juli 2024

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