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Christoph Ransmayr Cox oder Der Lauf der Zeit Christoph Ransmayr
Cox oder Der Lauf der Zeit.
S. Fischer Verlag 2016, 302 Sei­ten, ISBN 978-3-10-082951-1

Alister Cox er­hält ei­nen Ruf nach Pe­king, wo der chi­ne­si­sche Kai­ser Qian­long ei­ni­ge Auf­trä­ge für ihn be­reit hält. Cox ist nicht nur Uhr­ma­cher, er ist der Schöp­fer ei­ner gan­zen Rei­he von er­staun­li­chen Au­to­ma­ten, die sei­ne Be­rühmt­heit be­grün­den. Mit drei sei­ner bes­ten Mit­ar­bei­ter be­gibt er sich auf die Rei­se.

Zwei Jahre zu­vor war sei­ne ge­lieb­te Toch­ter Abi­gail an Keuch­hus­ten ge­stor­ben. Die Trau­er da­rü­ber ließ sei­ne Ar­beit zum Er­lie­gen kom­men und sei­ne Frau Faye ver­stumm­te. Die Dis­tanz, die Rei­se dau­er­te im­mer­hin sie­ben Mo­na­te, soll für neu­en Auf­trieb sor­gen, die He­raus­for­de­run­gen durch neue und noch kom­ple­xe­re Ge­rä­te zur Mes­sung und An­zei­ge der Zeit sol­len Trau­er und Ver­zweif­lung über­win­den.

Der Chinese Joseph Kiang wird den Eng­län­dern als Über­set­zer und Auf­pas­ser zu­ge­wie­sen, er soll das Schar­nier zwi­schen den ei­nan­der so frem­den Wel­ten sein.

Cox wird mit völ­lig neu­en He­raus­for­de­run­gen kon­fron­tiert, denn Qian­long, der Herr der zehn­tau­send Jah­re, möch­te die Zeit in der Ver­schie­den­ar­tig­keit sub­jek­ti­ver Wahr­neh­mung dar­ge­stellt se­hen. "Der Kai­ser woll­te, daß Cox ihm für die flie­gen­den, krie­chen­den oder er­starr­ten Zei­ten ei­nes mensch­li­chen Le­bens Uh­ren bau­te, Ma­schi­nen, die ge­mäß dem Zeit­emp­fin­den ei­nes Lie­ben­den, ei­nes Kin­des, ei­nes Ver­ur­teil­ten und an­de­rer, an den Ab­grün­den oder in den Kä­fi­gen ih­rer Exis­tenz ge­fan­ge­nen oder über den Wol­ken ih­res Glücks schwe­ben­den Men­schen den Stun­den- oder Ta­ges­kreis an­zei­gen soll­ten – das wech­seln­de Tem­po der Zeit." (S. 83)

Und so macht er sich da­ran, zu­erst eine Wind­uhr, dann eine Uhr für Tod­ge­weih­te, für Ster­ben­de zu bau­en. Die Mit­tel, die er zur Ver­fü­gung hat, sind un­be­grenzt, er und sei­ne Mit­ar­bei­ter kön­nen ih­ren Fä­hig­kei­ten völ­lig frei­en Lauf las­sen und ent­de­cken da­bei stän­dig neue. Pen­del­sys­te­me, Was­ser-, Wind- und Sand­mo­to­ren wer­den bald über­trof­fen von im­mer viel­schich­ti­ge­ren Kom­bi­na­tio­nen und bis­lang noch nie ge­nutz­ten For­men der An­triebs­ener­gie. Cox hat­te schon vor der Rei­se nach Pe­king ähn­li­che Ex­pe­ri­men­te durch­ge­führt. Nie­mand wuss­te, dass die in den Grab­stein seiner Toch­ter ein­ge­ar­bei­te­te Uhr durch die Erd­wär­me und die beim Zer­fall des Kör­pers frei ge­setz­ten sub­li­men Ener­gien an­ge­trie­ben wird.

Schließlich äußert Qian­long ei­nen Wunsch, der al­les Vor­he­ri­ge in den Schat­ten stellt. Cox soll et­was bau­en, das die Zeit bis in alle Ewig­keit misst und dar­stellt, ohne dass wei­te­re Ein­grif­fe nö­tig bzw. über­haupt möglich wä­ren: ein per­pe­tuum mo­bi­le! Eine zeit­lo­se Uhr, die erst auf­hö­ren wür­de zu schla­gen mit dem Ende der Zeit selbst.

Cox und seine Mit­ar­bei­ter ent­wi­ckeln eine Me­tho­de, die Schwan­kun­gen des Luft­drucks, die stän­di­gen Wech­sel in der At­mo­sphä­re zum An­trieb die­ses mons­trö­sen Ge­bil­des zu nut­zen.

Aber erst Kiang macht sie da­rauf auf­merk­sam, dass mit Fer­tig­stel­lung der Uhr ihre ei­ge­ne Zeit ab­ge­lau­fen sein wür­de: "Wuß­ten die Eng­län­der denn nicht, daß der Herr der zehn­tau­send Jah­re nicht nur über die Zeit ge­bot, son­dern die Zeit war, ja, die Zeit selbst war." (S. 241)

Um sich diesem Schick­sal zu ent­zie­hen, bau­en Cox und sei­ne Mit­ar­bei­ter fünf Si­che­run­gen in ihr letz­tes Werk, die erst nach ih­rer Ab­rei­se ein­ge­baut wer­den sol­len, um es dann in Gang zu set­zen.

Alister Cox ist der his­to­ri­schen Fi­gur James Cox (1723-1800) nach­ge­bil­det, der im 18. Jahr­hun­dert ei­ni­ge Ver­su­che zum Bau ei­nes per­pe­tuum mo­bi­le un­ter­nahm und den chi­ne­si­schen Kai­ser Qian­long – eben­falls eine his­to­ri­sche Ge­stalt – mehr­mals mit kom­pli­zier­ten Uh­ren be­lie­fer­te. Zu ei­ner Rei­se nach Chi­na ist es al­ler­dings nie ge­kom­men.

Ransmayr kleidet mo­der­ne phy­si­ka­li­sche Er­kennt­nis­se über die Zeit in ein exo­ti­sches, zu­wei­len phan­tas­ti­sches Ge­wand. "Cox oder Der Lauf der Zeit" ist eine wei­te­re Va­rian­te sei­nes im­mer wie­der keh­ren­den The­mas der Kon­fron­ta­tion sei­ner Pro­ta­go­nis­ten mit dem Frem­den, dem An­de­ren und der Aus­ei­nan­der­set­zung da­mit.


Christoph Rans­mayr: Die Schre­cken des Ei­ses und der Fins­ter­nis

Brian Greene: Ika­rus am Ab­grund der Zeit.

Ernst Jünger: Das Sand­uhr­buch.

-Leopold Infeld: Der Mann ne­ben Ein­stein. Ein Le­ben zwischen Raum und Zeit.
-Werner Kinnebrock: Was macht die Zeit, wenn sie ver­geht?
-Was also ist die Zeit? Er­fah­run­gen der Zeit. Ge­sam­melt von Gott­fried Hon­ne­fel­der.

8. Januar 2025

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