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Julian Barnes Der Mann im roten Rock Julian Barnes
Der Mann im roten Rock.
Aus dem Englischen von Ger­trau­de Krue­ger.
Kiepenheuer & Witsch 2021, 299 Sei­ten, ISBN 978-3-462-05476-7

Dr. Samuel Jean Pozzi (1846-1918) war ein be­deu­ten­der fran­zö­si­scher Chi­rurg, Gy­nä­ko­lo­ge, Po­li­ti­ker und Kunst­samm­ler. Er stu­dier­te Me­di­zin an der Uni­ver­si­tät von Pa­ris und spe­zia­li­sier­te sich zu­nächst auf Bauch­chi­rur­gie. Sei­ne größten Ver­diens­te er­warb er je­doch in der Gy­nä­ko­lo­gie:
Er führte die ers­te gy­nä­ko­lo­gi­sche Ab­tei­lung in Frank­reich ein, 1901 wur­de er der ers­te Pro­fes­sor für Gy­nä­ko­lo­gie an der Uni­ver­si­tät von Pa­ris. Er ver­fass­te ein zwei­bän­di­ges "Lehr­buch der kli­ni­schen und ope­ra­ti­ven Gy­nä­ko­lo­gie", das lan­ge Zeit als Stan­dard­werk galt. Poz­zi setz­te sich für mo­der­ne Hy­gie­ne­vor­schrif­ten in der Chi­rur­gie ein und führ­te an­ti­sep­ti­sche Me­tho­den in Frank­reich ein. Er war auch in­ter­na­tio­nal ver­netzt und un­ter­nahm zahl­rei­che Stu­dien­rei­sen, um sich mit Kol­le­gen aus­zu­tau­schen.
Neben seiner me­di­zi­ni­schen Kar­rie­re war Poz­zi viel­sei­tig in­te­res­siert und en­ga­giert: Er war als Po­li­ti­ker ak­tiv und ver­trat das Dé­parte­ment Dor­dog­ne im fran­zö­si­schen Se­nat. Als Samm­ler trug er eine um­fang­rei­che Münz- und Kunst­samm­lung zu­sam­men. Er über­setz­te Char­les Dar­wins Werk "Der Aus­druck der Ge­müts­be­we­gun­gen bei dem Men­schen und den Tie­ren" ins Fran­zö­si­sche. Der Ma­ler John Sin­ger Sar­gent vere­wig­te ihn 1881 in dem be­rühm­ten Por­trät "Dr. Poz­zi at Home", das ihn in ei­nem auf­fäl­li­gen ro­ten Haus­man­tel zeigt.

Nachdem Barnes die­ses Por­trät ge­se­hen hat­te, be­gann er sich für die Per­son des Dr. Poz­zi zu in­te­res­sie­ren. Da­raus ent­stan­den ist ein Netz von Per­so­nen und Er­eig­nis­sen, von Be­zie­hun­gen und Ab­schwei­fun­gen, das nicht nur das Le­ben und die Per­son des Dr. Poz­zi er­hellt, son­dern auch ei­nen tief­grün­di­gen Blick auf die Epo­che wirft, in der er leb­te.

Dr. Pozzi war nicht nur ein ge­fei­er­ter Arzt, son­dern auch ein pro­mi­nen­tes Mit­glied der Pa­ri­ser Ge­sell­schaft, das mit Künst­lern, Schrift­stel­lern und Po­li­ti­kern ver­kehr­te. Barnes' Er­zäh­lung ist kei­ne tra­di­tio­nel­le Bio­gra­fie, son­dern ein kom­ple­xes Mo­sa­ik, das Ele­men­te aus Poz­zis Pri­vat­le­ben, sei­nen me­di­zi­ni­schen Er­run­gen­schaf­ten und sei­nen Kon­tak­ten mit den kul­tu­rel­len Grö­ßen sei­ner Zeit mit­ei­nan­der ver­knüpft.

Eine Fülle von er­hel­len­den Ab­schwei­fun­gen, The­men und Per­so­nen be­tref­fend, wi­der­spre­chen si­cher al­lem, was man in ei­nem creative wri­ting Kurs zu hö­ren be­kommt, für die­ses Buch sind sie al­ler­dings von ele­men­ta­rer Be­deu­tung, um uns die At­mo­sphä­re sei­ner Zeit und die Viel­schich­tig­keit der Per­sön­lich­keit Dr. Poz­zis nä­her­zu­brin­gen.

Immer wiederkehrend die Fi­gur des Jean Des Essein­tes aus Jo­ris-Karl Huys­mans "À rebours", mit der Barnes einer zen­tra­len Figur – Ro­bert de Mon­tes­quiou (1855-1921) – im Um­feld Poz­zis Kon­tu­ren ver­leiht, er un­ter­zieht den Ro­man aber auch ei­ner li­te­ra­ri­schen Ana­ly­se. Die lang­jäh­ri­ge Be­zie­hung, die Poz­zi zu Sa­rah Bern­hardt pfleg­te, ver­liert sich am Ende in der Su­che nach dem Ver­bleib ihres Bei­nes, das ihr 1915 am­pu­tiert wor­den war. Das klingt skur­ril und in der Tat gibt es jede Men­ge skur­ri­le Be­ob­ach­tun­gen und Re­cher­chen in die­sem Buch. Auch die Hin­ter­grün­de zu Poz­zis Tod, er war von ei­nem sei­ner Pa­tien­ten an­ge­schos­sen wor­den und starb an den Fol­gen die­ses At­ten­tats, wer­den mit sub­ti­lem Hu­mor dar­ge­stellt. Al­les in al­lem: Fans von Ju­lian Bar­nes wer­den be­geis­tert sein, und für manch an­de­re wird es nicht die letz­te Lek­tü­re des Au­tors ge­we­sen sein.


Julian Barnes: Dover – Calais. Erzählungen

Biographisches

24. Dezember 2024

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