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Andrea Giovene Fremde Mächte Andrea Giovene
Fremde Mächte.
(=Die Autobiographie des Giuliano di San­se­ve­ro. Band 4)
Aus dem Italienischen über­setzt von Moshe Kahn.
Verlag Galiani Berlin 2023, 336 Sei­ten, ISBN 978-3-86971-268-0

Der Zweite Weltkrieg ist aus­ge­bro­chen, das Ita­lien Mus­so­li­nis steht an der Seite des na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deut­schen Reichs und Giu­lia­no di San­se­ve­ro wird als Of­fi­zier der Ka­val­le­rie mit sei­ner Ein­heit nach Frank­reich ge­schickt. Er be­zieht Quar­tier in ei­nem Pri­vat­haus, des­sen Be­sit­ze­rin ihn deut­lich spü­ren lässt, wie un­er­wünscht er ist. Die feind­li­che und ab­wei­sen­de Hal­tung der Be­völ­ke­rung macht ihm zu schaf­fen. Schon hier wird sei­ne Am­bi­va­lenz zwi­schen Pflicht­er­fül­lung und sei­ner hu­ma­nis­ti­schen Grund­hal­tung deut­lich, die sich durch die ge­sam­te Dau­er sei­ner Exis­tenz als Sol­dat zieht.

Nach einem kur­zen Zwi­schen­stopp in Reg­gio Emi­lia wird Giu­lia­no nach Grie­chen­land ver­legt. Im Hin­ter­land des klei­nen Or­tes ha­ben sich Par­ti­sa­nen or­ga­ni­siert, de­ren Ver­bin­dun­gen zu den Ein­woh­nern of­fen­sicht­lich sind. Giu­lia­no be­müht sich um ein fried­li­ches Mit­ei­nan­der mit der ört­li­chen Be­völ­ke­rung und emp­fin­det die Be­set­zung des Lan­des, das er für die Wie­ge der eu­ro­pä­ischen Kul­tur hält, als über­grif­fig.

Nachdem Italien 1943 ei­nen Waf­fen­still­stand mit den Al­li­ier­ten ver­ein­bart hat, über­neh­men deut­sche Trup­pen die Kon­trol­le und stel­len die ita­lie­ni­schen Sol­da­ten vor die Al­ter­na­ti­ve sich der deut­schen Wehr­macht an­zu­schlie­ßen oder den ver­blie­be­nen Ein­hei­ten Mus­so­li­nis. Giu­lia­no und an­de­re leh­nen bei­de Mög­lich­kei­ten ab und wer­den da­rauf­hin in­ter­niert. Giu­lia­no ge­langt so in ein La­ger in Lem­berg (Lviv) von wo aus es – be­dingt durch das un­auf­halt­sa­me Vor­rü­cken der Ro­ten Ar­mee – wei­ter nach Berg geht, einem klei­nen Ort in Elb­nä­he, wo er im Haus des Sä­ge­werk­be­sit­zers un­ter­ge­bracht wird. Vor­rü­cken­de Ein­hei­ten der US-Ar­mee brin­gen den Krieg auch nach Berg. Zahl­rei­che Bom­ben­an­grif­fe, ma­ro­die­ren­de Ban­den von ge­flüch­te­ten Zwangs­ar­bei­tern und Ge­fech­te mit den ver­blie­be­nen deut­schen Trup­pen über­zie­hen den be­schau­li­chen Ort mit Cha­os und Zer­stö­rung.

Eine kleine deut­sche Ein­heit nimmt Giu­lia­no ge­fan­gen, als sie sich auf dem Rück­zug be­fin­det, um am al­les ent­schei­den­den Kampf um Ber­lin teil­zu­neh­men. Von da an stei­gert sich das Tem­po der Er­zäh­lung, um die irr­wit­zi­gen und apo­ka­lyp­ti­schen Ver­hält­nis­se dar­zu­stel­len, die sich in die­sem End­kampf ab­spie­len. Während – mit Aus­nah­me man­cher Si­tua­tio­nen in Berg – die Be­schrei­bung des Ge­sche­hens bis da­hin eher ge­tra­gen und un­auf­ge­regt ist, ge­rät jetzt al­les aus den Fu­gen, die Dras­tik des Be­schrie­be­nen as­so­zi­iert Dar­stel­lun­gen der End­zeit in der mit­tel­al­ter­li­chen Ma­le­rei.

Giuliano kann je­doch ent­kom­men und macht sich auf den Weg zu­rück in die Hei­mat. Er be­geg­net da­bei ent­wur­zel­ten In­di­vi­duen, Trau­ma­ti­sier­ten, flie­hen­den Fa­mi­lien oder was von ih­nen übrig ge­blie­ben ist, Hun­ger, Ver­zweif­lung, Ge­walt und Ver­ro­hung und doch le­sen wir mit Er­stau­nen den fol­gen­den Satz: "Die Be­geg­nung un­ter­schied­li­cher Le­ben war rein und un­ver­sehrt, ohne alle kupp­le­ri­schen Hin­ter­ge­dan­ken, und ich ver­schmolz viel­leicht zum ers­ten und ein­zi­gen Mal auf voll­kom­me­ne Wei­se mit den Men­schen." S. 302

In Garmisch, in ei­nem Auf­fang­la­ger für dis­placed per­sons, fin­det sei­ne Odys­see ein Ende.

Reflexionen über Pflicht­er­fül­lung, Ethik, per­sön­li­che Ver­ant­wor­tung, Res­pekt ge­gen­über dem Ein­zel­nen und die Schick­sal­haf­tig­keit sei­ner Exis­tenz so­wie die her­vor­ra­gen­de Über­set­zung Mo­she Kahns ge­stal­ten das Buch zu ei­nem li­te­ra­ri­schen Hoch­ge­nuss.


Andrea Giovene: Das Haus der Häu­ser

22. November 2024

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