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Andrea Giovene Giuliano Sansevero tritt die Erbschaft seines verstorbenen Großvaters Don Michele an, der ihm Grund und Boden in Licudi hinterlassen hat, einem Ort in Kalabrien mit wenigen hundert Einwohnern. Inmitten der Olivenplantage, die große Teile seines Grundstücks bedeckt, soll das Haus entstehen, in dem er wohnen wird. Die Verhältnisse im Ort sind archaisch, das Bauvorhaben entwickelt sich zu einem Projekt, an dem der ganze Ort teilhat. Esel werden ausgeliehen, 20.000 Steine müssen bewegt werden, die meisten werden von Frauen auf ihren Köpfen transportiert, der Baumeister Janaro Mammola unterbricht die Arbeiten an anderen Häusern, um sich ganz dem Haus der Häuser zu widmen. Doch es kommt immer wieder zu Unterbrechungen. So müssen die Oliven geerntet werden, von denen der Ort – abgesehen vom Fischfang – lebt, und die Beschreibung dieser Ernte enthält Elemente, die sich durch den gesamten Text ziehen. Seit Jahrhunderten werden die selben Arbeitsabläufe verrichtet, die Menschen sind nur unzureichend vor den Elementen geschützt, die Hitze und das Meer bestimmen über Wohl und Wehe. Der nächste Ort ist nur über einen Eselspfad zu erreichen, der Autor verwendet immer wieder antike Bilder und Assoziationen, um die Rückständigkeit einerseits, andererseits aber auch die Substanz dieser Gemeinschaft zu erfassen. In dieser Atmosphäre wird Giuliano vom Beobachter zum akzeptierten Mitglied und fügt sich in das Gemeinschaftswesen entsprechend seiner sozialen Position ein. Er ist Arbeitgeber und Wohltäter, Patriarch und Ratgeber und begreift die Dynamik und Kraft des Ortes und der Menschen immer besser. Giulianos Denken und Empfinden ist von diesen außergewöhnlichen Umständen durchdrungen als er der 12-jährigen Arrichetta begegnet. Sie wird ihm zur Phantasmagorie einer antiken Göttin. "Ich habe eine Nymphe für den Preis einer Schafherde gekauft" sinniert er, nachdem er vom Vater des Mädchens durch einen erfolgreichen Handel die Erlaubnis erhalten hatte, sie zu sich zu nehmen. Doch aus der Verehrung und Bewunderung erwächst ein Begehren, das Giuliano in immer aufwühlendere Konflikte stürzt. Und als Don Cali, der reichste Mann des Ortes, ihn bittet, sich für ein Straßenbauprojekt einzusetzen, das Licudi mit dem nächst größeren Ort verbinden soll, nutzt er die Gelegenheit und verlässt Licudi und damit auch Arrichetta, bevor er "die verbotene Grenze" übertreten hatte. Doch dieser Schritt hat einen Preis, der ihm durchaus bewusst ist und ihn in erneute Gewissenskonflikte stürzt. Die Straße würde das Leben der Menschen in Licudi unwiderruflich verändern, der Einzug des zivilisatorischen Fortschritts und seiner Schattenseiten all das zerstören, was ihm in diesen vier Jahren, die er dort gelebt hat, die Substanz des Lebens gewesen ist. Eine archäologische Ausgrabung, die Fundstücke aus der Antike zutage bringt, überzeugt die Verantwortlichen, die geplante Straße zu bewilligen. Es geschieht, was zu erwarten war: Geschäftemacher und Spekulanten treiben die Gier der Menschen auf die Spitze, das soziale Gefüge wankt, die über Jahrhunderte gefestigte Balance gerät außer Kontrolle. Giuliano verlässt den Ort für immer. Auf dem Weg nach Neapel verkünden Lautsprecheranlagen den Eintritt Italiens in den Zweiten Weltkrieg. Es ist der 10. Juni 1940. Dieser dritte Band der fünfbändigen "Autobiographie des Giuliano Sansevero" erschien 2010 als Einzelband in der deutschen Übersetzung von Moshe Kahn, eine Veröffentlichung der weiteren Bände schien zu diesem Zeitpunkt unrealistisch. Der Autor war in Deutschland völlig unbekannt, das Risiko für den Verlag unverhältnismäßig hoch. Ich verstehe, dass es ausgerechnet dieser dritte Band gewesen ist, der als ein Art Versuchsballon publiziert worden ist, denn meinem Empfinden nach ist es der bildträchtigste und vielleicht auch tiefgründigste der fünf Bände. Da ich aber erst die drei ersten Teile der "Autobiographie" gelesen habe, mag sich diese Einschätzung noch ändern. Andrea Giovene (1904-1995) hatte vor der 'Autobiografia' nur einige kleinere Werke veröffentlicht und erlebte, mehrere Verlage hatten das Werk nicht veröffentlichen wollen, schließlich den literarischen Erfolg dieses an seine eigene Lebensgeschichte angelehnten umfangreichen Romans. Der fünfte Band erschien 1970 in Italien. Bis zu einer ersten deutschsprachigen Ausgabe sollten weitere 40 Jahre vergehen, die vollständige 'Autobiographie' liegt erst seit 2023 vor. 21. September 2024 |
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