Kassiber leer
Autoren Glossen Lyrik

Autobiographie des Giuliano di Sansevero Andrea Giovene:
Der letzte Sansevero. (=Die Auto­bio­gra­phie des Giuliano di San­se­ve­ro, Band 5)
Aus dem Italienischen von Moshe Kahn.
Galiani Berlin 2023, 327 Sei­ten, ISBN 978-3-86971-269-7

Der letzte Band der fünf­bän­di­gen „Auto­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San­se­ve­ro“ um­fasst ei­nen Zeit­raum von zwölf Jah­ren – be­gin­nend mit dem Ende des Zwei­ten Welt­kriegs und Giu­lia­nos Rück­kehr aus der Ge­fan­gen­schaft in sei­ne Hei­mat, en­dend we­ni­ge Tage vor sei­nem Tod.

Zunächst arbeitet Giu­lia­no im Mi­nis­te­rium für Flücht­lings­an­ge­le­gen­hei­ten, wo er mit der Or­ga­ni­sa­tion der Un­ter­brin­gung von Ver­trie­be­nen be­traut ist. Nach der bal­di­gen Auf­lö­sung des Minis­te­riums zieht er nach Nea­pel und be­ginnt dort als Jour­na­list zu ar­bei­ten. Nach dem Tod sei­nes On­kels be­gibt er sich in das klei­ne Städt­chen Guas­tel­la, wo er mit dem Schrei­ben sei­ner Me­moi­ren be­ginnt. Die Reak­tio­nen auf de­ren Ver­öf­fent­li­chung sind je­doch ent­täu­schend.

In London lässt Giu­lia­no nach der Toch­ter ei­ner frü­he­ren Ge­lieb­ten su­chen – in dem Glau­ben, ihr Va­ter zu sein. Zwi­schen bei­den ent­wi­ckelt sich eine amou­rö­se Span­nung, der er – wie schon in ei­ner frü­he­ren, ähn­li­chen Si­tua­tion – ent­flieht.

Schließlich zieht er sich in das ab­ge­le­ge­ne Dorf Ka­lo­ne­rò auf Si­zi­lien zu­rück. Die Pa­ral­le­len zum drit­ten Band (Das Haus der Häuser) sind un­über­seh­bar: Auch hier tritt Giu­lia­no als Wohl­tä­ter auf, auch hier be­geg­net ihm ein Mäd­chen, das ihn so sehr be­ein­druckt, dass er er­neut um sei­ne mo­ra­li­sche Inte­gri­tät bangt. Zu­gleich ent­wi­ckelt sich eine am­bi­va­len­te Be­zie­hung zum Dorf­pfar­rer. Be­son­ders ein­drucks­voll ist die Schil­de­rung des Klos­ters, in dem seit Jahr­zehn­ten fünf Non­nen le­ben, de­nen der Pfar­rer täg­lich die Beich­te ab­nimmt.

Giuliano fühlt sich aus­ge­laugt und des Le­bens müde. Die „Auto­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San­se­ve­ro“ en­det auf ge­heim­nis­vol­le und mehr­deu­ti­ge Wei­se. Im An­hang er­fah­ren wir vom Tod Giu­lia­nos und sei­nes Bru­ders – mit ih­nen stirbt die Fa­mi­lie di San­se­ve­ro nach 900 Jah­ren aus.

Neben der Schil­de­rung der Er­eig­nis­se von 1945 bis 1957 ent­hält der Band zahl­rei­che Rück­bli­cke auf Per­so­nen und Sta­tio­nen, die Giu­lia­nos Le­ben ge­prägt ha­ben. Der Ton­fall un­ter­schei­det sich deut­lich von dem der vo­ran­ge­gan­ge­nen vier Bän­de: me­lan­cho­lisch, re­sig­niert, bis­wei­len über­heb­lich. Es ist die Bi­lanz ei­nes il­lu­sions­lo­sen Le­bens.

Trotzdem ich den Ein­druck hat­te, dass der 5. Band ge­gen­über den vor­he­ri­gen et­was ab­fällt, ent­hält er Pas­sa­gen au­ßer­or­dent­li­cher In­ten­si­tät und ist – nicht nur da­durch – so le­sens­wert wie die ge­sam­te Pen­ta­lo­gie.

„Aus der wei­ten Dun­kel­heit stieg jetzt ein heim­li­ches Ver­drän­gen auf, ein dump­fes Rol­len, wie ein un­ter­ir­di­sches Ge­wäs­ser, das den Bo­den zum Be­ben bringt. Hier und da zuck­ten Blit­ze auf, bläu­lich, vio­lett, blass­röt­lich. Kur­zes Knal­len. Ben­ga­li­sche Feu­er lie­ßen für Se­kun­den klei­ne le­ben­di­ge und so­fort wie­der ver­schwin­den­de Ge­stal­ten auf Log­gien er­ken­nen. Drü­ben am Meer war der Ne­bel dich­ter ge­wor­den, und der wei­te Bo­gen des Golfs jen­seits der kal­ten Ha­fen­la­ter­nen lag reg­los da.“ S. 86

„Der Atem der Stadt war auf­ge­stie­gen wie ein glü­hen­der Hauch, das Keu­chen nahm zu und brei­te­te sich aus wie Lava, vom Ho­ri­zont her bis zu die­sem Her­zen, das auf­fla­cker­te und ver­brannt war. Licht­fun­ken wur­den em­por ge­schleu­dert und schos­sen durch ent­fern­te Luft­räu­me. Oh­ren­be­täu­ben­de Auf­ris­se von Hel­lig­kei­ten bra­chen sie an der leid­ge­prüf­ten Mas­se al­ter Ge­mäu­er. Der Zer­fall ei­ner von Weis­heit ge­tränk­ten Erde, die ih­ren Schmerz als Schreie aus­tropft.“ S. 89


Andrea Giovene: Das Haus der Häuser

Andrea Giovene: Frem­de Mächte

1. Juni 2025

Gelesen : Weiteres : Impressum